Das Diamantenmädchen (German Edition)
ihrem Ausschnitt, dass man den Stein sehen konnte.
»Hast du deinen noch?«, fragte sie lächelnd.
Paul griff sich automatisch an die Brust, wie sie es in Kinder- und Jugendzeiten vielleicht tausend Mal gesehen hatte, ließ aber dann die Hand sinken.
»Nein«, gab er kurz zurück, »ich habe ihn verloren.« Er zögerte, schließlich sagte er:
»Schon lange her. Du trägst ihn immer noch.«
Lilli nickte, als hätte es keine Bedeutung.
»Du hast immer so schöne Steine geschliffen«, sagte sie dann mit einem warmen Lächeln.
»Ja«, stimmte Paul zu, »aber das war früher. Man wird etwas …«, er stockte kurz und sah in die winddurchwehte Stadt hinaus, »man wird etwas ganz Neues machen müssen.«
Später, als der Wind etwas nachgelassen hatte, gingen sie gemeinsam quer über den Gendarmenmarkt am Französischen Dom vorbei zum Telegraphenamt. Paul hatte eine telegraphische Geldanweisung abzuholen. Auf dem Weg plauderten sie von unbedeutenden Dingen; wie man eben redet, um aus dem Dramatischen in den Alltag zurückzufinden. Lilli hatte Paul ein wenig von ihrer Arbeit für die B.I. erzählt; Paul hatte nach ihrer Mutter gefragt, und so waren sie von einem zum anderen gekommen. Der Himmel war wild bewegt, und zwischen aufgerissenen, stürmisch ziehenden Wolken kam immer wieder eine fast unwirklich helle Sonne hervor. Auf dem Platz wechselten Licht und Schatten sich in rascher Folge ab, und dazwischen gab es manchmal noch ein paar Tropfen, in denen sich im nächsten Augenblick schon wieder das Sonnenlicht brach. Unvermittelt blieb Paul stehen und fasste nach Lillis Ärmel, um sie auf etwas aufmerksam zu machen.
»Sieh mal«, sagte er und deutete auf das Dach des Französischen Domes. Vor dunklen, in Fetzen ziehenden Wolken stand die Andeutung eines Regenbogens in der Luft, die Farben ganz zart, aber leuchtend vor dem herbstlichen Hintergrund und der grauen Stadt.
»So müssten sie sein«, sagte Paul nach einem kurzen Schweigen und Lilli verstand auch ohne Nachfrage, dass er die Diamanten meinte, die er so sorglos in der Tasche trug.
»Darf ich mal vorbeikommen?«, fragte sie schließlich. »Bei der Arbeit zusehen?«
»Wann immer du willst«, sagte Paul mit einem traurigen Lächeln, und Lilli fragte sich, ob diese tiefgehende Trauer in ihm jemals wieder vergehen würde. Aber dann sah sie auf die Uhr und erschrak.
»Gott, ist das spät!«, rief sie, sagte noch zu Paul: »Das mach ich. Ganz sicher!«, und rannte los. Paul sah ihr nach, als sie sich noch einmal umdrehte, Kleid und Mantel vom Wind verwirbelt und an ihre hübschen Beine geweht, und ihm quer über den Platz vergnügt noch einmal zurief: »Ganz bestimmt! Ich komme!«, und dann weiterlief wie eine kleine Windsbraut. So fühlte sich Leben an.
8
Schambacher hatte Spätdienst, saß in seinem Büro und ordnete die Photos vom Tatort vor sich in immer wieder neuen Reihen. Er mochte Anagramme, und deshalb tat er mit Photos dasselbe wie mit Buchstaben. Andere Folgen ergaben andere Muster und Ideen. Eigentlich hasste er es, wenn es in dieser Phase nicht voranging, obwohl er wusste, dass es sie in jedem interessanten Fall gab. Im Augenblick stand der Diamantenmord vor ihm wie eine glatte Mauer, an der es nicht den geringsten Angriffspunkt gab. Dieser Vergleich gefiel ihm, weil er so bildhaft war. Weil er diese glatte, kalkweiße Mauer wirklich vor sich aufragen sah. Er wusste, dass es irgendwo einen fast unsichtbaren Riss im Verputz gab. Das war der erste Anhaltspunkt. Und wenn man den Riss gefunden hatte, konnte man anfangen, am Putz zu bröckeln. Dann war der Rest oft nur noch Arbeit, bei der man wusste, wo man hinlangen musste. Hier bei einem Verhör einen Stein lockern, dort bei einem überraschenden Besuch im Mörtel stochern, bis irgendwann auf einmal die Struktur klar wurde, man den entscheidenden Stein aus dem Verbund brach und plötzlich auf die andere Seite blicken konnte. Aber das war es eben. Der Riss war nicht zu sehen. Wer hatte den Schwarzen umgebracht? Warum? Und was hatte der Diamant damit zu tun? Und – die wohl wichtigste Frage – wer war der Schwarze? Schambacher seufzte und langte nach der Zeitung, um sich abzulenken, als das Telephon klingelte.
»M 1, Schambacher«, meldete er sich.
»Lunow, Diebstahl«, kam es aus dem Hörer, »hören Sie, Schambacher, ich habe Athleten-Anna hier, und die macht so’n Krach, dass wir nicht so richtig zu Rande kommen. Sie schreit die ganze Zeit nach dem kleinen Doktor.«
Man hörte förmlich, wie
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