Das Diamantenmädchen (German Edition)
Gefühl, an diesem klaren Herbstmorgen durch das Viertel ihrer Kindheit zu gehen. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr so früh am Morgen hier gewesen. Auf einmal waren die Morgen ihrer Kindheit und Jugend wieder da, an denen sie hastig, mit dem Tornister auf dem Rücken und mit wehenden Zöpfen, durch die Straßen gerannt war, um noch rechtzeitig zur Schule zu kommen. Hier in Zehlendorf war es kälter als in Mitte, und auf dem Gras in den Gärten, in den schattigen Ecken, lag noch Raureif. Ihre Schritte klangen hell in den stillen Straßen. Nur manchmal knatterte ein Auto vorbei, und hoch über ihr surrte fern ein Zeppelin. Sie sah hoch und musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie das allererste Mal ein Luftschiff gesehen hatten, wie sie ihm hinterhergerannt waren. Plötzlich sehnte sie sich in die Kindheit zurück, mit einem großen Verlangen nach einer Welt, in der es keinen Krieg gegeben hatte und in der man kein Großstadtfräulein sein musste, nicht kühl und schnoddrig; eine Welt, in der Liebe nicht kompliziert war und in der man noch staunen konnte wie ein Kind. Sie seufzte, und dann gab sie sich innerlich einen Stoß. Sentimentales Gör, schimpfte sie sich im Stillen, fand dann, dass sich ihre innere Stimme fast wie die ihrer Mutter angehört hatte, und musste über sich selbst lachen.
Das Gartentor zu van der Laans Haus stand leicht offen und sie ging die Freitreppe hinauf. Die Messingklingel war von Tau beschlagen und fühlte sich sehr kalt an, als Lilli mit – von den Handschuhen noch warmen Fingern – darauf drückte. Es schellte laut durch das Haus, und Lilli wurde wieder, ob sie wollte oder nicht, an ihre Kindheit erinnert. Tausend Mal hatte sie mit Wilhelm in der Morgenkälte vor dieser Tür gestanden und war auf und ab gehüpft, um sich warm zu halten, bis Paul endlich herausgestürmt kam und sie alle zusammen zum Bahnhof rennen konnten.
Diesmal erkannte Gerda sie, als sie die Tür öffnete.
»Fräulein Kornfeld«, sagte sie mit ihrer knarrenden Altfrauenstimme, »Paul ist in der Werkstatt.«
»Danke, Gerda«, sagte Lilli und gab ihr Mantel, Hut und Handschuhe, die das Hausmädchen umständlich an der Garderobe versorgte.
»Ich bringe dann den Kaffee hinunter«, sagte Gerda, als sie die Korridortür öffnete, »ich habe eben erst angeschürt.«
Lilli nickte lächelnd und ging durch den Korridor zur Treppe, die ein halbes Stockwerk nach unten in die alte Werkstatt des Großvaters van der Laan führte. Schon auf dem Weg hörte sie ein feines, metallisches Singen, das in der Luft lag. Unten klopfte sie an die Werkstatttür, hörte keine Antwort und wollte eben noch einmal klopfen, als Paul öffnete und sie anlächelte.
»Ah, die Hauptstadtpresse!«, sagte er und deutete eine kleine Verbeugung an. Ganz offensichtlich war er gut gelaunt, Lilli hatte ihn selten so aufgeräumt gesehen. Er trug einen eleganten Sweater über Knickerbockers und sah überhaupt nicht so aus, als arbeite er eben in einer Werkstatt.
»Musst du dich nicht umziehen?«, fragte Lilli neugierig und ein bisschen überrascht. Sie hatte sich so etwas wie einen weißen Kittel vorgestellt, irgendetwas Künstlerisches. Paul sah aus, als würde er eben zum Tennis oder zu einem Picknick aufbrechen.
Paul lachte.
»Dass diese Frage immer als erstes kommt!« Er schloss die Tür hinter Lilli und ging zu seinem Arbeitsplatz. Durch die vergitterten Fenster schien an einer Ecke schon die Morgensonne. Trotzdem brannten über der Werkbank zwei helle Glühbirnen in schwarzen Scherenlampen, die man fast über die ganze Länge des Raumes ziehen konnte. Lilli sah die Werkstatt das erste Mal seit ihrer Kindheit wieder. Es hatte sich viel verändert. Grau lackierte Maschinen gab es jetzt, die auf die Arbeitsfläche geschraubt waren, einen Werkstattwagen aus Stahl und mit Gummirollen, ein Waschbecken an der Wand. Nur der Boden war immer noch der freundliche helle Holzboden, an den sie sich erinnerte, und auch der alte, riesige Tresor war noch da. Das erste Mal fiel Lilli etwas auf.
»Sag mal«, fragte sie Paul, »wie haben sie denn damals den Tresor hier hereingebracht? Der ist doch viel zu groß für die Tür.«
Paul lächelte vergnügt.
»Das habe ich mich auch irgendwann mal gefragt«, sagte er, »und Großvater hat mir dann erzählt, dass sie, als sie das Haus gebaut haben, zuallererst den Tresor auf den Grund gestellt haben und dann das Haus um ihn herum gebaut.«
Er zog eine Schublade der Werkbank heraus, in der einige Ordner und
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