Das Diamantenmädchen (German Edition)
hier«, sagte Paul, als er sich wieder aufrichtete und lässig an die Werkbank lehnte, »ist das Allerschwierigste. Sieh mal«, er nahm ihre Hand so selbstverständlich wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, »schau dir den Stein genau an. Siehst du diesen winzigen Punkt rechts oben?«
Lilli war ebenfalls in die Hocke gegangen. Das Sonnenlicht fiel durch den Stein und sie konnte zum ersten Mal etwas von der Faszination spüren, die Diamanten für Paul haben mussten: Es war ganz anders, als wenn man durch Glas sah. Es war, als sammle sich das Licht klar und kühl im Inneren des Steins– ein See von Licht. Und ja, sie sah den kleinen Punkt. Er war winzig, und er wäre ihr nicht aufgefallen, wenn Paul sie nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
»Was ist das?«, fragte sie.
Paul zuckte mit den Schultern.
»Ein Einschluss. Glas vielleicht. Oder ein anderes Mineral. Und das ist das Problem. Der ganze Stein ist lupenrein. Nichts. Kein Fehler. Bis auf diesen winzigen Einschluss.«
»Aber das sieht man doch kaum!«, sagte Lilli, als sie sich wieder aufrichtete. Paul grinste wie der Lausbub, der er früher einmal gewesen war, vor dem Krieg.
»Na ja«, sagte er gelassen, »aber er macht den Unterschied zwischen zwölftausend und hundertzwanzigtausend Mark.«
Hundertzwanzigtausend! Lilli hatte eine Inflation erlebt, in der Hundertzwanzigtausend der Preis für eine Tasse Kaffee gewesen war. Aber Hundertzwanzigtausend heute bedeutete … eine Villa im Grunewald kostete Hundertzwanzigtausend.
»Deswegen«, sagte Paul immer noch so vergnügt, »denke ich seit einer Woche über nichts anderes nach, als wie man diesen Stein spaltet.«
»Aber verliert er denn nicht an Wert, wenn du ihn spaltest? Er wiegt dann doch weniger. Wieviel Karat hat er jetzt?«
»Vierundfünfzig«, sagte Paul, »und danach wird er hoffentlich noch fünfundvierzig haben, und wenn ich ihn geschliffen habe, dann noch achtunddreißig. Außer, ich mache ihn jetzt kaputt«, fügte er leicht hinzu.
»Du machst ihn doch auf jeden Fall kaputt«, sagte Lilli boshaft, »aber warum sägst du ihn nicht wie den anderen?«
»Noch immer so frech wie früher«, sagte Paul, nahm noch einmal ihre Hand und führte sie entlang der Maserung über das Holz der Werkbank.
»Deshalb«, sagte er. »Der Diamant ist ein Kristall und ist gewachsen. Längs kann ich ihn spalten, quer muss ich ihn sägen. Wie Holz. Aber das Spalten ist das Allerschwierigste. Hast du schon mal vom Cullinan gehört?«, fragte er dann.
»Paul!«, empörte sich Lilli lachend. »Sag mal! Ich schreibe einen Artikel über berühmte Diamanten. Natürlich. Vor zwanzig Jahren in Südafrika gefunden. Über dreitausend Karat. Der größte jemals …«
Paul unterbrach sie lachend.
»Oh. Lilli hat ihre Hausaufgaben gemacht. Siehst du, den hat man auch gespalten. Die Assher Brüder in Amsterdam haben ihn zum Schleifen bekommen. Mein Großvater hat bei ihnen gelernt, und er hat immer gesagt, dass sie die besten Schleifer der Welt seien.«
Lilli hatte den Holzhammer und das eiserne Messer von der Bank genommen und wog die beiden Werkzeuge nachdenklich in den Händen. Paul hatte sich vor sie auf den Schemel gesetzt und sah zu ihr hoch. Es war jetzt sehr sonnig in der Werkstatt, und in den Sonnenbalken tanzte der Staub glitzernd. Von oben hörte man Geklapper aus der Küche, wo Gerda vermutlich immer noch am Kaffeekochen war. Es herrschte eine wunderbar leichte, friedliche Morgenstimmung, ganz anders als an dem Tag, als sie Paul das letzte Mal besucht hatte. Vielleicht hat er nur etwas gebraucht, dachte Lilli, was ihn in die Welt zurückholt. In seinem Gesicht konnte man den neugierigen Jungen von damals wiedererkennen, den schlaksigen, nachdenklich-fröhlichen Jungen, in den sie sich als kleines Mädchen schon verliebt hatte.
»Erzähl weiter«, sagte Lilli leise, um die Stimmung nicht zu zerstören.
»Joseph Assher hat den Cullinan drei Monate studiert. Ein Vierteljahr lang jeden Tag. Bis er ihn so kannte wie keinen Stein vorher. Tausend Zeichnungen hat er gemacht. Hundert Berechnungen. Alles, um herauszufinden, wie man den Stein am besten spaltet. Und dann war es so weit.«
Paul nahm Lilli sanft den Hammer und das Messer aus der Hand, stand auf und stellte sich an die Bank. Leicht legte er das Messer auf den Diamanten, fast achtlos, aber Lilli spürte, dass er jetzt sehr konzentriert war und eigentlich nichts anderes mehr wahrnahm. Es war, als erzählte er die Geschichte sich
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