Das Diamantenmädchen (German Edition)
Kurt«, hatte Mama beschwichtigt, »lass doch den Jungens die Freude.«
Und dann hatte Papa nur noch etwas gemurmelt, was Lilli nicht verstanden hatte. Aber heute Morgen war er dann doch ganz aufgeräumt gewesen, und er hatte Lilli sogar zwei Mark mitgegeben.
»Kauft euch was Warmes«, hatte er lächelnd gesagt, »es ist ordentlich kalt heute.«
Lilli war trotz der Kälte mit dem Fahrrad gefahren. Die Straßen- und U-Bahnen fuhren längst nicht mehr regelmäßig, weil der Strom so oft ausfiel. Niemand hatte mehr Kohlen. Sogar zu Hause heizten sie nur noch die Küche und das Esszimmer. Aber eigentlich ging es ihnen immer noch gut. Sie hatten sonntags sogar noch echten Kaffee. Papa sagte nicht, woher er ihn hatte, aber auf dunklen Wegen kamen sogar Äpfel und Fleisch ins Haus. Manchen von Lillis Klassenkameradinnen ging es viel schlechter als ihr. Neulich war Dorothee Eisenstein einfach vor Hunger umgekippt, und Carlotta Friedrich hatte eine kleine Schwester gekriegt, die schon nach vier Tagen wieder gestorben war, weil ihre Mutter nicht genug Milch hatte.
Lilli stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt Ausschau nach dem Zug. Da war Rauch in der Ferne. Sie sah auf die Bahnhofsuhr. Fast pünktlich, freute sie sich. Mit ihr warteten vor allem viele Frauen auf dem Perron. Manche waren in Uniform – Schaffnerinnen oder Postbotinnen, die wohl für eine Stunde freigenommen hatten und auch jemanden abholten. Viel Farbe gab es nicht in dieser Menge. Viele trugen Schwarz oder Grau. Lilli sah trotzig in den blauen Himmel. So wollte sie jedenfalls nie aussehen, schwor sie sich im Stillen mit all der Kraft, die die Jugend hat, nicht so abgehärmt und traurig und jämmerlich. Egal, was kam, sie würde den Kopf immer hochhalten. Jetzt pfiff es zweimal aus der Ferne, allmählich ahnte man das Stampfen der Maschine, und die Gleise fingen an zu singen: Der Zug lief ein. Schaffnerinnen gingen mit ausgestreckter Kelle am Bahnsteigrand entlang und mahnten die Wartenden zurückzubleiben. Die Bremsen schrillten und pfiffen, eine Welle heißer, feuchter Luft traf Lilli, als die Lokomotive sich turmhoch an ihr vorbeischob und der Zug kreischend zum Stillstand kam. Sofort flogen die Türen auf und Soldaten sprangen heraus, ihre Tornister in der Hand oder auf dem Rücken, zu zweit, zu viert, zu acht. Manche hingen aus den Fenstern und suchten vom Waggon aus den Bahnsteig nach ihren Liebsten ab, andere wollten in der Tür kurz stehen bleiben und gucken, wurden aber von den anderen mit groben Sprüchen weitergeschoben. Mit einem Mal war überall das Feldgrau der Soldaten zu sehen. Es gab kaum noch ein Durchkommen. Dort, wo Lilli stand, kam ein Lazarettwagen zum Stehen. Eigentlich war es wohl ein umfunktionierter Güterwaggon. Die großen Schiebetüren öffneten sich, und die Sanitäter, die auch auf dem Bahnsteig gewartet hatten, schoben sich mit ihren Tragen zum Waggon durch. Lilli machte ihnen Platz und beobachtete, wie ein Verletzter nach dem anderen auf die Trage gehoben und dann durch die Menge wegtransportiert wurde. Eigentlich wollte sie lieber wegsehen, aber sie konnte nicht. Bei einem der Verwundeten wirkte die Trage seltsam leicht, und sie sah, dass sich unter der Decke nichts abzeichnete als ein Torso. Wie bei der Lumpenpuppe, die sie als ganz kleines Mädchen gehabt hatte, die einfach gerade und in einem Stück aus einem Mehlsäckchen genäht und mit Stroh gestopft war. Ebenso wie ihr fehlten dem Mann Arme und Beine, aber ein Kamerad hatte ihm eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, und der Mann lag rauchend auf der Trage, ein Auge gegen den Rauch zugekniffen; mit dem anderen starrte er in den makellos blauen Himmel über dem Bahnhof, als er durch die quirlende Menschenmasse getragen wurde. Und daneben lachten zwei Frauen glücklich, die ihre Männer in die Arme schlossen. Lilli wurde ganz flau, sie schob sich vom Lazarettwaggon fort. Allmählich lichtete es sich auf dem Bahnsteig etwas, aber sie hatte Paul und Wilhelm immer noch nicht gefunden. Nur noch vereinzelt stiegen Soldaten aus dem Zug aus. Lilli beschloss, bis ganz nach vorne zum Ende des Perrons zu gehen und dort zu warten. Eine kleine Angst stieg in ihr auf. Vielleicht hatten sie doch keinen Urlaub bekommen. Vielleicht hatte es eine Offensive gegeben. Vielleicht war in den letzten zwei Tagen irgendetwas passiert. Vielleicht waren sie verwundet worden, streifte sie ein Gedanke, den sie gleich wieder von sich fortschob. Nein, dachte sie, es ist ja noch viel zu
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