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Das Diamantenmädchen (German Edition)

Das Diamantenmädchen (German Edition)

Titel: Das Diamantenmädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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hatten. Sie liefen eine große Acht. Wenn sie in die Kurven schlitterten, sprühte das Eis funkelnd in drei großen Bögen auf. Sie atmeten jetzt alle drei schnell. Die Atemwolken sahen aus wie Nebelstreifen, die sie hinter sich ließen. In den Kurven wurden sie manchmal beinahe auseinandergerissen. Das Blau über ihnen, die unbändige Freude, die kalte Luft und das Glitzern des Eises – es war für einen Augenblick so, als hätte es keine Missstimmung gegeben und als gäbe es gar keinen Krieg. Keuchend und immer schneller fuhren sie ihre Acht, kreischend legte sich Lilli in die Kurve, spürte Pauls Hand in der ihren, doch dann verlor Wilhelm plötzlich das Gleichgewicht, riss Lilli und Paul mit sich, und schreiend, lachend krachten alle drei aufs Eis und schlitterten bis an die hölzerne Brüstung.
    »Genug!«, keuchte Paul, als er aufstand und Lilli die Hand hinhielt. »Pause, ja?«
    Sie glitten zusammen hinüber zum Kiosk, an dem es heißen Gewürzwein gab.
    »Papa hat mir zwei Mark mitgegeben!«, verkündete Lilli fröhlich und zog ihre Geldbörse heraus. »Wir sollen uns was Warmes kaufen.«
    »Igitt!«, sagte Wilhelm, als er von dem dampfenden Wein gekostet hatte. »Kriegsglühwein!«
    Lilli probierte auch. Wilhelm hatte recht. Der Wein schmeckte nur schwach süßlich und ganz bestimmt nicht nach Zimt.
    Allmählich belebte sich die Eisfläche, und immer mehr Leute bevölkerten die Bahn. Lilli genoss es mit allen Sinnen, neben ihrem Bruder und Paul zu sitzen. Es war ein wunderbares Gefühl. Überall stäubte das Eis und glitzerte in kleinen Wolken auf. Lilli hatte das schon immer gemocht.
    »Sieht aus wie Diamantenstaub«, sagte sie versonnen, dann sah sie auf den Ring, den Paul ihr geschenkt hatte, spürte eine flüchtige Röte, die in ihren Wangen aufstieg, und wünschte sich plötzlich, dass Paul ihr wieder richtig nahe war, so wie damals. Obwohl er mit ihr lachte, fühlte er sich so fremd und so entrückt an, als sei er mit den Gedanken in einer ganz anderen Welt. Auf einmal wollte sie, dass er wieder der alte Paul war, den sie so mochte.
    »Was ist der schönste Diamant der Welt?«, fragte sie ihn unvermittelt.
    »Du doch«, sagte Paul halb im Scherz und lächelte sie an, aber es war ein trauriges Lächeln, das spürte sie.
    »Nein«, sagte sie, »im Ernst. Was ist der schönste Diamant der Welt?«
    Paul machte erst eine abwehrende Handbewegung, aber dann schlug er die Augen nieder und dachte nach. Wilhelm aber warf nach einem kurzen Augenblick stolz ein:
    »Der Regent ist der schönste Diamant der Welt. Der Regent .«
    Lilli war überrascht.
    »Woher weißt du das?«
    »Wenn wir im Unterstand sitzen, dann reden wir oft über solche Sachen. Aus der Schule oder so. Wir repetieren griechische Vokabeln. Wir reden über die Römer. Oder ich erzähle die Geschichten vom Großvater van der Laan. Du musst solche Sachen machen«, sagte Paul sehr leise, »sonst wirst du verrückt.«
    Eine warme Welle des Mitgefühls stieg in Lilli auf, und sie hätte Paul jetzt so gerne einfach umarmt und gehalten.
    »Der Regent also«, griff sie stattdessen den Faden wieder auf, »erzählt mir davon.«
    Paul bückte sich und nahm von der Eisfläche mit der bloßen Hand etwas Eisstaub. Es war so kalt, dass er nicht gleich schmolz, und Paul warf ihn mit einer schönen Bewegung hoch. Es glitzerte in der Sonne, als die Eiskristalle durch die Luft wirbelten und langsam zu Boden fielen.
    »Erzähl du«, sagte er zu Wilhelm. Gleichzeitig lehnte er sich eine Kleinigkeit nach rechts, sodass seine Schulter jetzt Lillis Schulter berührte.
    »Wilhelm weiß über Diamanten fast schon so viel wie ich«, sagte er leicht, »ich kann ihm bald nichts mehr beibringen. Er ist wie ein Schwamm.«
    »Der Regent hat eine blutige Geschichte«, sagte Wilhelm mit einer Härte in der Stimme, die Lilli nicht mochte. »So ist es immer und überall. Das ganze Leben ist Kampf. Sobald es um irgendetwas Kostbares geht, werden wir alle zu kämpfenden Tieren. Ein Sklave hat ihn in Indien gefunden«, sagte er, »am Fluss Krishna.«
    »Und es ist der letzte große Diamant, den man in Indien entdeckt hat«, warf Paul ein. Lilli hatte sich auf der Bank etwas zurückgelehnt, hörte das Rauschen des nahegelegenen Bahnhofs, atmete die eiskalte Luft und sah ein kaltes, hungerndes Deutschland im gleißenden Licht der Januarsonne, aber sie ließ sich, zwischen ihrem Bruder und ihrem heimlich Geliebten Schulter an Schulter sitzend, von beiden in ein märchenhaftes Indien

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