Das Diamantenmädchen (German Edition)
nicht einmal die einfachsten Dinge einfallen wollten. Am Freitag hatte sie normal Dienst gehabt … sie sah ihre Termine durch. Wann war sie mit Viktoria essen gewesen? War das auch Freitagabend gewesen? Sie schlug den Tag davor nach. Ach, jetzt hatte sie es. Am Donnerstag war das Interview beim Sechstagerennen gewesen. Und an dem Abend hatte sie mit Viktoria Hans Albers im Metropol gesehen, also war sie am Freitagabend zu Hause gewesen.
»Ja«, sagte sie zögernd, »ich war allein. Das ginge schon.«
Paul hörte die Zurückhaltung heraus.
»Ich … ich will dich eigentlich zu nichts zwingen«, sagte er und hörte sich dabei fast rührend an, »aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll!«
Lilli gab sich Mühe, Klarheit in ihren Geist zu bringen und alle Konsequenzen zu durchdenken.
»Bist du noch da?«, fragte Paul schließlich nervös.
»Ja ja«, sagte sie, »ich … wie sollen wir es machen? War ich bei dir?«
Sie besprachen sich kurz. Paul hatte sich schon eine Geschichte zurechtgelegt. Da Lilli ja einen Artikel über Diamanten schrieb, hatte sie sich mit ihm schon an diesem Abend getroffen. Schließlich kannten sie sich ja von Jugend auf. Und heute war sie eben noch einmal gekommen, um Paul auch bei der Arbeit sehen zu können. Lilli machte sich ein paar Notizen in ihre kleine Reporterkladde, damit sie die wichtigsten Sachen nicht vergaß. Als sie damit durch waren, hörte sie trotz des Verkehrslärms auf der Friedrichstraße, wie Paul erleichtert aufatmete.
»Danke, Lilli«, sagte er, »vielen Dank.«
Lilli zögerte einen Augenblick. Sie wusste nicht, ob sie Paul jetzt gleich von dem Mann ohne Gesicht erzählen sollte. Er war schon beunruhigt genug. Andererseits sollte er das vielleicht schon möglichst bald wissen. Aber da unterbrach sie die Stimme des Telephonfräuleins.
»Bitte werfen Sie nach, wenn Sie weitersprechen wollen.«
Lilli stöhnte … sie hätte doch vom Verlag aus anrufen sollen! Sie hatte keinen einzigen Groschen mehr.
»Augenblick!«, sagte sie noch, obwohl sie wusste, wie sinnlos es war, dann war die Verbindung getrennt. Ärgerlich stopfte sie Notizbuch, Geldbörse und Stift und was sie sonst noch in der Eile aus der Handtasche geholt hatte, wieder ungeordnet zurück und verließ den Fernsprecher. Und jetzt Redaktionskonferenz! Na, immerhin hatte sie dann etwas Zeit, um die Sache mit dem Alibi noch einmal genau zu durchdenken. Sie überquerte die Friedrichstraße wieder und sah kurz auf die Uhr. Sie würde es eben noch schaffen. Langsam wurde sie wieder etwas ruhiger. Mit Paul konnte sie nach der Konferenz noch einmal telephonieren. Wie eigenartig es doch war, dass sie sich jahrelang nicht gesehen und gesprochen hatten, und jetzt waren sie sich in wenigen Tagen wieder so nah gekommen, als hätte es dazwischen keine Zeit gegeben. Sie wusste nicht einmal, was Paul in diesen sechs Jahren gemacht hatte. Aber zwei, drei Treffen hatten genügt, um die alte Vertrautheit wiederherzustellen. Paul und ein Mord! Was für eine absurde Vorstellung.
Sie war jetzt fast da. Vor dem Ullsteinhaus stand der große schwarze LKW, von dem Lilli immer fand, er sehe von vorne fast aus wie ein Panzer oder vielleicht auch wie ein U-Boot. Das Kennzeichen war leicht zu merken: fünfmal die Acht. Einer der Fahrer grüßte Lilli lässig; sie kannte ihn flüchtig von der Zeit, als sie ganz am Anfang für vier Wochen in der Expedition gewesen war. In der Mittagssonne warf der groß geschwungene, in das schwarzglänzende Blech eingeprägte Schriftzug »Ullstein« scharfe Schatten, durch die das Wort noch deutlicher hervortrat.
Das sind wir, dachte Lilli flüchtig, das Schlachtschiff unter den Zeitschriftenverlagen Berlins. Sie betrat das Haus, eilte am Portier vorbei und fuhr nach oben in die Redaktion. Die vertraute, sachliche Umgebung gab ihr ein Gefühl von Sicherheit zurück. Die ledergepolsterte Doppeltür, die schweren Stühle, die ebenso schweren, gläsernen Aschenbecher auf dem langen Besprechungstisch, der Geruch nach Holz, Zigarrenrauch, Leder und vor allem nach Druckerschwärze und Zeitungspapier, der von Dutzenden der verschiedensten europäischen Zeitungen kam, die auf dem Tisch lagen – das alles war unverwechselbar und unverändert und sehr beruhigend. Lilli begrüßte die Kollegen und wurde begrüßt, Scherze flogen hin und her, kleine Plaudereien am Rande der Monatskonferenz wurden geführt, die oft mehr brachten als die Konferenz selber, Lachen und das Geräusch lebhafter Gespräche
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