Das Diamantenmädchen (German Edition)
entführen. Sie schloss die Augen und hörte, wie sie sich in immer weiteren Geschichten um Indien verloren, wie Wilhelm fasziniert von blutigen Opferritualen und grausamen Göttern berichtete, wie Paul von exotischen Farben und Düften schwärmte, von biegsamen Tänzerinnen in leuchtend weißen Tempeln. Sie hörte den beiden schweigend zu, wie sie vor ihr eine fremde Sehnsuchtswelt malten, in der Hunger und Krieg und Leidenschaften nur Geschichten waren.
»Er wusste genau, was dieser Stein wert war«, erzählte Wilhelm weiter, »und dann hat er kurz entschlossen seine Hacke genommen und sich tief in den Schenkel gehackt.«
»Was?«, fragte Lilli erschrocken. »Wieso?«
»Weil er den Stein verstecken musste«, erklärte Paul trocken, »er hat ihn dann in die Wunde gesteckt. Man hat schon damals die Arbeiter in den Minen jeden Abend durchsucht.«
Wilhelm skizzierte mit der Spitze seines Schlittschuhs eine provisorische Karte ins Eis.
»Hier ist die Küste der Arabischen See«, sagte er, »dahin ist er geflohen. Der Diamant war das Versprechen eines freien Lebens. Er bot einem englischen Kapitän die Hälfte des Preises, den der Diamant wert war. Damit hätte sich der Kapitän vier oder fünf neue Schiffe kaufen können.«
»Wieso hätte?«, fragte Lilli. »Hat er nicht?«
Wilhelm zuckte mit den Schultern.
»Ich habe doch gesagt, es ist eine blutige Geschichte. Warum hätte er sich mit der Hälfte begnügen sollen, wenn er alles bekommen konnte?«
»Tja, warum?«, warf Paul ironisch ein. »Weil er dann ein ehrlicher Mann geblieben wäre.«
»Ehrlichkeit zahlt sich nicht aus«, sagte Wilhelm mit plötzlicher Bitterkeit. »Ehrlichkeit lohnt sich nicht mehr, man muss einfach stärker sein als die anderen.«
Lilli wusste nicht, was sie sagen sollte. Wilhelm tat ihr jetzt womöglich mehr leid als Paul. Er war so anders geworden. Sie legte ihre behandschuhte Hand auf die seine. Ihr Bruder ließ es kurz geschehen, zog dann aber die Hand weg und griff nach seinem Glühweinglas.
»Der Kapitän jedenfalls«, erzählte Paul weiter, um das Schweigen zu überbrücken, »konnte der Versuchung wohl auch nicht widerstehen. Er wollte den ganzen Stein, nicht nur die Hälfte. Jede Nacht stand er am Lager des Sklaven und überlegte. Und eine Nacht, bevor sie in Bombay waren, brachte er ihn um und warf ihn über Bord.«
»Ich glaube, ich habe keine Lust mehr, die Geschichte zu hören«, sagte Lilli und wollte aufstehen.
»So sind sie eben, die wahren Geschichten«, sagte Wilhelm fast böse, »und es ist nichts umsonst. Du hast keine Ahnung …«
»Ich habe diesen Krieg nicht angefangen!«, erwiderte Lilli plötzlich hitzig. »Was willst du eigentlich von mir? Ich wollte euch doch bloß einen schönen Tag machen … und dann … du …« Sie hätte am liebsten gesagt, dass er sich ja schließlich freiwillig gemeldet hatte und dass sie ja nichts dafür konnte, dass der Krieg so viel anders war, als er ihn sich vorgestellt hatte, aber dann biss sie sich auf die Zunge. Sie erinnerte sich an den Verwundeten von vorhin und dass sie wahrscheinlich wirklich keine Ahnung hatte, wie es da draußen war.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich bei Wilhelm, »erzählt einfach weiter, ja?«
Wilhelm schwieg und stieß mit dem Schlittschuh kleine Eisbrocken hin und her. Paul stand auf und dehnte sich ein wenig.
»Kommt, wir laufen noch ein bisschen. Ich verspreche, dass ich weitererzähle«, sagte er mit einem versöhnlichen Lächeln, als die beiden Geschwister zunächst verstockt sitzen blieben. Endlich gab sich Wilhelm einen Ruck, reichte Lilli die Hand und zog sie hoch. Mit leichten Schritten begannen sie, wieder über die Fläche zu gleiten.
»Der Kapitän verkaufte den Stein für fünftausend Dollar an einen Diamantenhändler in Bombay«, erzählte Paul, »und er führte damit ein Leben wie im Märchen. Er war fast so reich wie ein Maharadscha. Er konnte sich alles leisten: Kleidung, Essen, Frauen – was er wollte.«
»Frauen!«, sagte Lilli spitz. »Pfff. Ihr immer mit euren Frauen!«
»So sind Männer«, grinste Wilhelm frech, »gewöhn dich dran.«
»Na, aber so schnieke, wie er sich das gedacht hat, war es dann wohl doch nicht«, sagte Paul bedächtig. »Der Mord an dem Sklaven ist ihm letztendlich doch nachgegangen. Immer mehr. Und nach einem Jahr hat er sich dann aufgehängt.«
»Ein Mann mit Gewissen«, warf Wilhelm spöttisch ein, »das gibt’s heute fast nicht mehr.«
Lilli sagte nichts, und Paul fuhr fort, als
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