Das Doppelspiel
sichtlich erschüttert. »Vielleicht sind dort schon alle ersoffen. So etwas von Regen hat's noch nie hier gegeben, und ich bin in Jakutsk geboren!«
Man fuhr aber doch an diesem Tag ab … allerdings nicht am Morgen, wie geplant, sondern am späten Nachmittag. Shukow und die Wuginskaja blieben allein im Abteil, obgleich mehrmals hintereinander Offiziere oder Zivilisten, die wie Shukow Ingenieure sein mochten, den Kopf durch die Tür steckten und höflich fragten, ob noch ein Plätzchen für sie frei sei. Jedesmal tönte ihnen Valja Johannownas Stimme entgegen: »Hier ist ein Lazarett!«
Wer sie dennoch ungläubig anblickte, mit einem deutlichen Schimmer männlicher Begeisterung ob soviel weiblicher Schönheit, mußte schnell den Kopf zurückziehen, denn sie knallte die Tür rücksichtslos zu.
»Jetzt habe ich genug!« sagte sie, als der siebte Frager zurückprallte. Sie erhob sich, holte aus ihrer Reisetasche eine Schreibmappe, nahm ein Blatt Papier heraus und schrieb mit ihrem tiefroten Lippenstift in großen Buchstaben: »Eintritt verboten! Zuglazarett.« Mit Heftpflaster klebte sie das Schild an die Glastür und starrte einen Mann böse an, der gerade ansetzte, das Abteil zu betreten.
»Wer jetzt noch die Tür öffnet«, sagte sie zu Shukow, »den operiere ich! Sie müssen ihn nur festhalten, aber Sie sind ja kräftig genug.«
»Warum tun Sie das, Valja Johannowna?« fragte er.
»Ich möchte mit Ihnen allein sein.«
»Danke –«
»Bilden Sie sich nichts ein, Wassja Grigorjewitsch! Ich will mit Ihnen allein sein aus rein wissenschaftlichem Interesse.«
»Soll ich mich ausziehen?« fragte Shukow harmlos und sah sie mit seinen verträumten Augen an. »Ich garantiere Ihnen: bei mir ist anatomisch alles in Ordnung und am richtigen Platz.«
»Was werden Sie tun, wenn man Ihnen zwei Brigaden Sträflinge gibt?«
»Ich weiß, daß ich sie bekomme. Für den Straßenbau. Was ich da tun werde? Ich werde ein Mensch sein.«
»Ein großes Wort, Genosse Shukow.«
»Ein schönes Wort, Genossin Wuginskaja.«
Wenn ein Zug endlich abfährt, ein Ereignis, auf das man stundenlang gewartet hat, dann ist das ein erhebendes Gefühl. Glaubt es mir, Genossen! Dann liegt die Weite vor einem, das Unbekannte, das Erlebnis. Dann wird das Rattern der Räder zur Musik, und das Schnaufen der alten Kohlelok weckt Kindheitserinnerungen. Man hat festgestellt, daß 70 Prozent aller Jungen einmal Lokomotivführer werden wollten … ist das kein Beweis für die tiefe, beseligende Romantik, die ein fauchender Dampfkessel erzeugen kann?
Der Zugleiter kam in das Abteil, nachdem er das Schild mit der Lippenstiftschrift gelesen und sich entschieden hatte, daß ein Zugleiter zu allem Zutritt hat, weil es sein Zug ist. »Die Strecke ist frei«, sagte er glücklich. »Ottokh meldet sich zwar noch immer nicht, aber wir können auf jeden Fall einen Tag und eine Nacht fahren. Das ist schon etwas bei diesem Regen! Vertrauen wir auf die gute Arbeit der Schienenleger.«
Es waren nicht die Schienenleger, die Kummer machten, sondern die Brückenbauer. Und das gegen Morgen, genau um fünf Uhr zweiundzwanzig. Der Zug näherte sich einem kleinen Fluß, für sibirische Verhältnisse war's nur ein Rinnsal und hieß Tjuganja, als rote Laternen seitlich der Schienen signalisierten, daß etwas nicht in Ordnung war. Dann tauchten auch schon in dem vom strömenden Regen aufgesogenen Morgengrauen drei Arbeiter auf, die ebenfalls rote Laternen schwenkten. Die armen Männer staken in Gummianzügen, als seien sie Taucher, und standen mitten auf den Schienen. Der Zug bremste knirschend, aus der Lok quoll ein ohrenbetäubendes Pfeifsignal, und Valja Johannowna rollte in ihrem Abteil von der Bank. Unsanft fiel sie auf den Waggonboden.
Es hatte vorher, bevor man sich schlafen legte, noch eine kurze Debatte gegeben. »Sie sind müde«, hatte Shukow zu der Wuginskaja gesagt. »Ich sehe es Ihnen an. Warum schlafen Sie nicht? Haben Sie Angst, ich könnte Ihre horizontale Lage falsch verstehen?«
»Sie sind ein Widerling!« hatte sie geantwortet, ihren Mantel als Kopfkissen zusammengefaltet und sich auf der Sitzbank ausgestreckt.
»Bitte, ich liege. Zufrieden?«
»Nein.«
»Was fehlt? Sagen Sie bloß nicht: Sie haben vergessen, Ihr Nachthemd anzuziehen!«
»Sie tragen ein Nachthemd? Wie altmodisch, Valja Johannowna! Ein Körper soll atmen, deshalb schlafe ich immer nackt.«
»Auch heute?« fragte sie. Ihre schrägen Augen glitzerten wütend.
»Das ist
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