Das Doppelspiel
der Erde. Und mich will man dafür verantwortlich machen! Soll man da nicht verzweifeln?«
»Und wie geht es weiter?« fragte die Wuginskaja. »Sollen wir hier stehenbleiben und warten, bis wir versinken? Es kann noch tagelang regnen.«
»Das wird es, Genossin, das wird es! Ich habe mit dem Leiter des Streckenabschnitts gesprochen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir warten, bis der erste Frost kommt, dann wird der Boden wieder hart –«
»Das ist doch Blödsinn!« sagte die Wuginskaja laut.
»… oder wir versuchen, auf Booten und Flößen den Fluß zu überqueren und müssen dann auf der anderen Seite warten, bis uns ein Zug aus Ottokh abholt. Warten müssen wir auf jeden Fall.«
»Und wo nehmen Sie die Boote und Flöße her?« fragte Shukow.
»Das ist kein Problem, ist schon gelöst«, sagte der Zugleiter stolz. »Auf der anderen Seite des Flusses ist Nowo Sosnowka. Ein kleines Dorf nur, aber zwei Werst von ihm entfernt, in der Taiga, liegen zwanzig Baracken mit Sträflingen. Alles Politische.« Er spuckte aus und sah dann beifallheischend um sich. »Ein Lumpenpack! Man wird sie mobilisieren und ihnen Flammen unter die Ärsche legen. Sie werden uns alle hinüberholen. Den ganzen Zug.«
»Bei diesem Regen? Bei dieser reißenden Strömung im Fluß?« fragte Shukow.
»Es wird eine Menge ersaufen. Ist's schade drum? Endlich können sie etwas für ihr Vaterland tun. Bis das Militär aus Jakutsk kommt, unsere heldenhaften Pioniere, und eine Pontonbrücke bauen, sind wir längst über den Fluß und auf dem Weg nach Ottokh. Ha, wir werden den Ehrgeiz und die Kraft haben, diesen Mistregen zu besiegen! Sollen wir uns unterkriegen lassen? Wo wir tausend Staatsfeinde haben, die endlich einmal arbeiten können, statt sich auf unsere Kosten dicke Hintern anzufressen? Passen Sie auf, Genossen, wie man so etwas organisiert!«
»Das möchte ich sehen –«, sagte Shukow ernst und blickte dabei die Wuginskaja an. »In dieser entfesselten Natur eine Brücke aus Menschen –«
»Warum nicht?« antwortete sie kühl, als habe er sie gefragt, was sie darüber denke. »Aber Sie werden zum Kannibalen werden, Wassja Grigorjewitsch.«
»Ich verstehe Sie nicht …«
»Sie müssen sich selbst auffressen, Genosse Shukow –«, sagte sie hell. »Sie müssen Ihre ganze Menschlichkeit hinunterschlucken. Nur so überleben Sie. Wir sind in Sibirien …«
Jede Organisation, auch die beste, und was hier an dem zu einem reißenden Strom gewordenen Flüßchen Tjuganja geschah, sollte ein Musterbeispiel sowjetischer Improvisationskunst werden, braucht ihre Zeit. Ehe aus einem Samenkorn ein Getreidehalm sprießt, vergehen Monate, sogar die einfachste Feldblume benötigt ihr Entwicklungsstadium, jedes Unkraut wächst nach Naturgesetzen … nur was man mit einem Menschen alles anstellen kann, der weniger ist als Unkraut, das lernte Shukow in den nächsten Stunden kennen.
In der Morgendämmerung, die keine Sonne durchließ, weil nur Wasser vom Himmel fiel, das alles Licht aufsaugte bis auf eine trübe Helligkeit, blieb also der Zug stehen, und es nützte gar nichts, daß die Begleitoffiziere der Deportierten brüllten, daß die Zivilreisenden, meistens Ingenieure, Wissenschaftler, Geologen und Raketenfachleute, wie Gassenjungen fluchten … der geplagte Zugführer rannte, nachdem er Shukow und die Wuginskaja informiert hatte, wieder durch seinen blockierten Zug und schrie herum, im Parteiprogramm stehe weder drin, wie man sich bei einer Sintflut benehmen solle, noch wie man es schafft, unter den Waggonrädern wegsinkende Schienen aufzuhalten.
»Noch vier Tage einen solchen Regen und wir werden zu einer U-Bahn!« brüllte der Zugführer jeden an, der ihn mit seinen Terminen belästigte und Marschbefehle oder Einstellungsdaten vorzeigte. »Hätten Sie einen Posten in Nowgorod angenommen oder in Irkutsk oder in Smolensk … Genossen, ihr säßet jetzt mit einem warmen Arsch im Behördensessel und könntet euren Sekretärinnen unter den Rock greifen. Aber wir stehen mitten in Sibirien! Das hier ist jungfräuliches Land. Und ihr seid die Pioniere, die es entjungfern sollen. Dazu gehört Mut und Stärke – also benehmt euch danach.«
Draußen lief unterdessen das an, was man Organisation nannte. Die Funkverbindung mit dem Dorf Nowo Sosnowka und vor allem mit dem großen Straflager klappte vorzüglich – man brauchte ja nur über den Fluß zu sprechen. Dagegen schwiegen Jakutsk und Ottokh, so verzweifelt sich der Zugfunker
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