Das Dorf der Katzen
somit die Sanfte, Moderate, als Katze Versinnbildlichte und Sachmet die Raue, Unberechenbare, die als Löwin versinnbildlicht wurde.
Beide wurden als Schwestern betrachtet, allerdings war Sachmet insofern untergeordnet, als sie keine „echte“ Schwester war, sondern quasi ein abgespaltenes Anhängsel von Bastet, ein eigenständiger Schatten, ein Widerspruch in sich. Der Bastet/Sachmet-Kult erlebte seine Blüte während der griechisch-römischen Epoche in Ägypten.
Vera hörte konzentriert zu. Einiges war ihr schon bekannt, anderes völlig neu.
Ioannis redete weiter.
„Es gibt seit Aberhunderten von Jahren auf dieser Insel, und nur hier, eine Prophezeiung, welche die Wiedervereinigung der beiden Gottheiten voraussagt, die unabwendbar ist. Offen lässt diese Prophezeiung, ob nun Sachmet wieder in Bastet aufgeht oder ob beide in einer schon bestehenden Gottheit verschmelzen werden. Das ist letztendlich auch unerheblich, denn in beiden Fällen wird Sachmet als eigenständige Gottheit nicht mehr bestehen!“
Vera lag ein halbes Dutzend Fragen und Einwände auf der Zunge, aber sie schwieg.
„Allerdings sagt die Prophezeiung auch, dass der Vorgang der Verschmelzung mit weltweiten Verheerungen, wozu auch der Untergang dieser Insel gehört, und dem Erscheinen von Bestien und Dämonen einhergeht. Warum, lässt die Prophezeiung auch offen. Auslöser aller Ereignisse soll eine sehr seltene Planetenkonstellation sein, gepaart mit der Ankunft einer blonden Frau mit einem speziellen Muttermal, also mit deiner Ankunft. Was das Muttermal betrifft, so sind wir sehr sicher, dass es deine Male sind. Bastets Name in Hieroglyphenschrift enthält unter anderem zwei halbmondähnliche Kreissektoren, die genauso aussehen wie deine Male.“
Vera dachte an die Kinder.
„MAGISSA!“
Sie glaubte, es wieder zu hören. „HEXE!“
„Wir wurden von DER EINEN angehalten, dich auf die Insel zu bringen, damit die Verschmelzung beginnen kann und damit du gleichzeitig deinen Teil dazu beiträgst, dass es nicht zu den drohenden Verheerungen kommt. Du bist Katalysator und Moderator zugleich.“
„DER EINEN?“ Vera hatte sich mittlerweile auf kurze Zwischenfragen beschränkt.
Ioannis hielt kurz inne, atmete einmal tief durch und sah dann Vera fest in die Augen.
„Choriogatos ist das letzte Refugium der ägyptischen Katzengöttin Bastet, von der jetzt die ganze Zeit die Rede war. Wir nennen sie auch ‚DIE EINE’. Unter dem Dorf gibt es eine Höhle, in der sich eine Statue der Göttin in Form einer sitzenden Katze befindet.
Wir sind ihre letzten Anhänger und Diener auf dieser Welt.“
Vera war wie vor den Kopf geschlagen. Also doch eine obskure Sekte aus weltfremden Gagas?
Sie beherrschte sich mühsam.
„Alles gut und schön. Ich liebe Katzen, ich verstehe Katzen und die meisten Katzen verstehen mich. Kurz, ich komme recht gut klar mit den Fellnasen. Aber wieso qualifiziert mich das in euren, Verzeihung, in IHREN Augen für eine Rolle, die mir angeblich in diesem Spiel aufgetragen ist?“
„Lasst mich bitte durch!“
Ein alter Mann drängte sich durch die Menge nach vorn. Er ging gebückt und hatte einen langen weißen Stock in der Hand.
Als er vor Vera stand und den Kopf hob, erkannte sie, dass er blind war.
„Ich bin Raffaele“, sagte er mit fistelnder Altmännerstimme. „Ich bin der letzte, dem die Prophezeiung und die Gabe der Zwiesprache mit DER EINEN weitergegeben wurde. Nach mir kommt keiner mehr, weil sie nicht mehr weitergegeben werden muss. Darf ich dich anschauen, mein Kind?“
Er hatte die freie Hand in Richtung Vera ausgestreckt.
„Ja“, sagte sie.
Der Alte begann, mit seiner ungemein feingliedrigen, kühlen Hand vorsichtig Veras Gesicht abzutasten. Er strich über ihr Haar, so, als ob er dessen Farbe fühlen konnte.
Seine Finger glitten über ihren Hals tiefer. Vera versteifte sich innerlich. „Wenn er mich an der Brust befingert, muss ich ihm auf die Griffel klopfen“, dachte sie grimmig.
So weit kam es aber nicht. Seine Hand strich über ihre Schulter zum Oberarm. Dort war ihm der feste Stoff des Sweatshirts im Weg.
„Bitte schieb den Ärmel hoch“, sagte er. Vera gehorchte.
Die Hand wanderte weiter, bis sie die beiden Muttermale erreichte. Diese standen höchstens einen Zehntelmillimeter von der umgebenden Haut vor, aber Raffaele spürte sie.
Andächtig fuhren seine Fingerspitzen die Konturen nach. Dann drehte er sich zu den Menschen im Raum um und rief:
„Ja, sie trägt die Male DER
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