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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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von Gefühl von oben bis unten ab.
    »Sie sind Esther?«, fragte er. Ihm fiel niemand anderer ein, auf den das Wort steinalt so gut gepasst hätte. »Geht es Ihnen nicht gut?«
    Die Augen schlossen sich wieder. Mit einem Seufzen sank ihr Kopf zurück an die Wand. Der halb geöffnete Mund, die spitze Nase und das kleine Kinn ließen sie aussehen wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel – beängstigend und mitleiderregend zugleich.
    »Ich suche Cara. Cara Spornitz. Ist sie hier vorbeigekommen?«
    Ihre knotigen Finger tasteten nach dem Stock. Als sie ihn gefunden hatte, beugte sie sich nach vorne und stützte ihre gefalteten Hände auf die Krümmung des Holzes.
    »Heißt sie jetzt so?« Eine Stimme wie ein Reibeisen. Ent weder hatte sie ihr Leben lang Zigarre geraucht oder Whis key literweise in sich hineingeschüttet. Ihre Haut spannte sich mumienhaft über die hageren Züge. »Früher war sie eine von denen.«
    Jeremy, der sich eigentlich schon gedanklich wieder auf dem Rückzug befunden hatte, horchte auf.
    »Früher?«, fragte er und überlegte, ob er wohl für einen Moment neben ihr Platz nehmen könnte. »Wann war denn das?«
    »Als ich noch laufen konnte, junger Mann. Noch hören und sehen.« Ihre Finger bewegten sich klauenhaft um den Stock. »Heute ist alles tot. Alles ist tot heute.«
    »Darf ich?«, fragte er. Sie reagierte nicht. Er setzte sich und sah auf seine Uhr. Wenn Cara sich verspätete und zurück zur Kirche kam, würde sie auf jeden Fall hier vorbeikommen. Er konnte sie gar nicht verfehlen.
    »Aber es blüht doch so schön bei Ihnen.« Er wies auf den Apfelbaum, in dem die unreifen Früchte schwer in den Ästen hingen. Reiche Ernte. »Ihr Rhododendron ist eine Wucht.«
    »Hortensie. Das ist eine Hortensie, junger Mann. Von Blumen haben Sie keine Ahnung. Von allem anderen auch nicht, was?«
    »Ähm«, räusperte sich Jeremy verwundert. Er war es nicht gewohnt, gleich in den ersten Sätzen einer harmlosen Unterhaltung auf seine Defizite angesprochen zu werden. »Was meinen Sie?«
    »Plötzlich kommen alle her. Fremde, die Fragen stellen. Also nur zu. Fragen Sie. Wir sind das Dorf der Mörder. Wir werden gerne bespuckt. Sie sind doch von der Presse, oder?«
    Ihre Finger spielten mit dem Stock, mal schneller, mal langsamer.
    »Nein. Ich bin mit Cara hier.«
    »Das ist eine von denen.« Zur Bestätigung stieß sie kurz die Spitze des Stockes in den Boden. Er bestand, anders als der Rest des Gartens, aus verwitterten Holzbohlen. Wahrscheinlich eine alte Luke zum Einstieg in den Keller. »Vom Hof. Was will sie hier? Soll sich fortscheren.«
    »Was haben eigentlich alle gegen sie? Cara war doch fast noch ein Kind, als sie hier wegging.«
    Wieder traf ihn ein Blick aus den wässrigen Augen. »Kinder sind unschuldig, ja? Glauben Sie das, ja? Natürlich. Jeder glaubt das, wenn sie sabbernd und lächelnd an der Brust liegen. Aber sie werden älter, und sie sind schlimmer als Tiere. Sie sind grausam. Tiere sind das nicht.«
    Sie schien sich warmzureden. Mit der Sprache musste es bei ihr wie mit ihren steifen Gliedern sein: Am Anfang schwergängig, schleifend, aber nach ein paar Sätzen sprang der Motor wieder an.
    »Haben Sie schon mal gesehen, wie Kinder kleine Katzen an ein Hoftor nageln? Wie sie aus dem Nest gefallene Vögel zertreten? Fröschen die Beine rausreißen? Regenwürmer so lange zerschneiden, bis sich keines der Stücke mehr regt? Und wie sie mit anderen Kindern umgehen. Beim Baden fast ersäufen. Vom Heuboden werfen. Mit der Mistgabel aufspießen. In die Sickergrube werfen. Kinder. Pah.«
    »Muss ja viel los gewesen sein hier.« Mehr fiel Jeremy zu dieser Hasstirade nicht ein. Esther schüttelte den Kopf.
    »Nichts war los. Gar nichts. Langeweile. Wenn dann die Grausamkeit dazukommt …«
    »Waren alle Kinder so?«
    Sie stieß wieder mit dem Stock auf. Ein hohles, dumpfes Geräusch. »Alle. Alle. Ohne Ausnahme. Sie auch, junger Mann. Tun Sie nicht so, als hätten Sie schon immer höflich neben Mumien auf einer Gartenbank gesessen.«
    Jeremy spürte, wie sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Er holte es heraus und warf mit klopfendem Herzen einen Blick aufs Display. Brock.
    »Danke«, sagte er und stand auf. »Ich suche dann mal weiter.«
    Die Alte warf ihm einen Vogelblick zu, von unten nach oben. »Sie werden sie nicht finden. Sie kommen und gehen. Sie sind wie die Hunde, nachts. Werfen Sie Steine nach ihnen. Dann verschwinden sie.«
    »Ja. Natürlich. Steine.«
    Jeremy eilte zurück auf die

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