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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Müllabfuhr.«
    Sanela schob einen Strang Efeu zur Seite und spähte durch die Gitterstäbe nach draußen. Hinter der Klinik begann der Urwald.
    »Ich kann sie nicht sehen. Auf der Rückseite, sagen Sie?«
    Die Frau trat neben sie und nickte. »Ich sage schon seit Jahren, sie sollen da weg. Grade im Sommer. Wenn der Wind falsch steht, zieht alles in die Wohnung. Man kann kein Fenster mehr auflassen.«
    Die Lichtenberger Plattenbauten umrundeten den Tierpark wie ein riesiger Wall.
    »Ich bin eigentlich fertig«, sagte die Frau. »In zehn Minuten hole ich sie raus. Wollen Sie dabei sein?«
    »Danke. Nicht nötig.«
    Sanela folgte der Frau hinaus auf die Straße zu den Verwaltungsgebäuden. Die Fahrbahndecke bestand aus großen Betonplatten, die langsam verwitterten. Gras spross aus den Rissen. Die Frau bog nach links ab und hielt auf die Barackentür zu. Bevor sie hineingehen konnte, fragte Sanela: »Wer sind Sie?«
    »Ich heiße Charlotte Rubin. Charlie. Alle nennen mich Charlie. Wenn Sie mehr wissen wollen, wenden Sie sich an den Kurator. Verwaltungstechnisch gesehen gehören wir zum Kinderzoo.«
    »Zum … Kinderzoo.«
    »Ja. Ich kann Ihnen jetzt den Kaffee machen. Wollen Sie ihn noch?«

5
    S anela betrat die Baracke durch einen engen Flur. Rechter Hand befand sich der Aufenthaltsraum der Mitarbeiter. Es bot sich ein ähnliches Bild wie in der Tierklinik: rau verputzte Wände, blättriger Anstrich, roher Estrich auf dem Boden. Auf dem Tisch eine Wachsdecke, der Spülstein – das sagte man wohl zu diesen tiefen Keramikbecken – gesprungen. Die letzte Renovierung war vermutlich noch in DDR-Mark bezahlt worden. Charlotte Rubin wühlte sich durch ein Hängebord, in dem Marmeladegläser, Stifte, Teepäckchen und angebrochene Kekspackungen standen. Schließlich fand sie ein Glas Pulverkaffee. Sie öffnete den Deckel und stocherte mit einem Löffel in dem steinharten Inhalt herum.
    »Ich trinke eigentlich nur Tee. Das hier hat die Urlaubsvertretung letztes Jahr dagelassen.« Ein paar braune Klumpen lösten sich. »Ich weiß nicht, kann man das anbieten?«
    Gehring immer. »Natürlich. Danke, dass Sie sich so eine Mühe machen.«
    »Kein Problem.« Die Rattenzüchterin holte zwei Becher aus einem offenen Regal und schaltete einen Wasserkocher ein.
    »Milch? Zucker?«
    »Schwarz.«
    Die Polizistin blieb in der offenen Tür stehen.
    »Schauen Sie sich ruhig um.«
    Im Raum zur Linken standen große Kisten. In ihnen wimmelten Ratten – Dutzende, Hunderte. Vom winzigen Baby bis zum ausgewachsenen Bock. Sanela blieb vor einer Kiste mit Muttertieren stehen. Sie hatten gerade geworfen. Winzige rosige Fleischwürmchen drängten sich an die Zitzen, kletterten übereinander, fielen herab, wühlten und wanden sich durch das Knäuel ihrer Artgenossen. Charlie trat ein, stellte sich neben sie, holte einen der Winzlinge heraus und legte ihn auf die flache Hand. Er krümmte sich zusammen, zu mehr Gegenwehr war er noch nicht fähig. Etwas an ihm erinnerte sie an Fotos von menschlichen Föten im Mutterleib.
    »Zwei Tage sind sie alt. Die Augen sind noch geschlossen. Und hier …« Sie wendete das Jungtier auf den Rücken. Es krümmte sich zusammen, doch der Zeigefinger der Rattenzüchterin streichelte fast zärtlich den kleinen Bauch. »Die Leber. Das Herz. Sehen Sie es schlagen? Die Haut ist noch durchsichtig.«
    »Ja.« Fast andächtig beugte sich Sanela über das rosige Ding, kaum halb so groß wie ihr kleiner Finger. »Was ist dieser weiße Fleck?«
    »Die Muttermilch, die sie gerade getrunken haben. Da. Nehmen Sie.«
    Charlie legte ihr die neugeborene Ratte vorsichtig auf die Handfläche. Sanela spürte die Wärme und die Bewegung des winzigen blinden Tieres. Der weiße Fleck rührte sie. Die Beinchen, der nackte, längliche Kopf – wie der eines großen Wurms.
    Sanela beugte sich vor. Die Ratten vergaßen für einen Moment das Wühlen im Futter und reckten ihre Hälse neugierig nach oben.
    »Die Babys setzen wir nach einer Woche ab. In dieser Größe sind sie die ideale Brautgabe des Rennkuckucks. Die Schlangenfarm hätte sie am liebsten schon früher.«
    Sanela ließ die Ratte zurück in ihre Kiste gleiten. Das Tier tauchte unter in einem rosigen Gewühl sich windender kleiner Leiber.
    »Wissen sie es?«, fragte Sanela.
    Charlotte Rubin verließ den Raum, Sanela folgte ihr. Sie bog links in den Flur und öffnete eine weitere Tür. Ein säuerlicher Geruch schlug ihr entgegen. An den Wänden standen Käfige mit weißen Mäusen.

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