Das Dorf der Mörder
bloß nicht auf falsche Gedanken käme. Die Verklemmtheit gegenüber weiblichen Kollegen unterer Dienstgrade nahm manchmal groteske Züge an.
»Nehmen Sie Platz.« Sie versuchte, sich aufzusetzen und dabei das Nachthemd mit der rechten Hand artig bis ans Kinn hochzuziehen. Den linken Arm konnte sie kaum bewegen.
Gehring sah sich um und entdeckte einen Stuhl in der Dusche. Während er die nasse Sitzfläche mit einem Handtuch trocknete, überlegte Sanela fieberhaft, was es mit diesem Besuch auf sich hatte.
»Sie wissen von der Festnahme?«, fragte er, stellte den Stuhl neben das Bett und nahm vorsichtig Platz.
»Nein.« Sanela hatte am Vormittag den ersten klaren Gedanken fassen können. Ihr Vater war bis zwei Uhr nachts bei ihr geblieben. Schließlich hatte sie ihn entnervt nach Hause geschickt, weil sein Schnarchen sie fast um den Verstand gebracht hatte.
»Ich habe noch keinen Fernseher. Wer wurde festgenommen?«
Gehring rutschte auf der Sitzfläche herum. Offenbar hatte er sie nicht ganz trocken bekommen. Er deutete auf das zerknüllte Zeitungspapier, in das er die Blumen gewickelt hatte. »Die Frau, die Sie so erwischt hat. Es war Charlotte Rubin. Sie arbeitet im Tierpark. Muss sich von hinten angeschlichen haben und auf Sie losgegangen sein. Die Festnahme steht schon in allen Zeitungen. Sie, Frau Beara, haben wir noch rausgehalten.«
»Charlie?«
Ihr Ausruf war so verblüfft, dass Gehring in seiner Rutscherei innehielt und fragend die Augenbrauen hob.
Sanela griff schnell nach dem Strauß, befreite die Blumen und las das, was ein Boulevardblatt am Morgen als Aufmacher gebracht hatte. Doppelseite. Das Monster aus dem Tierpark . Charlies Foto gepixelt. So mordete die Rattenzüchterin . Großportrait von Gehring. Opfer noch nicht identifiziert. Das leere Pekari-Gehege mit dem Flatterband. Mann, zwischen fünfzig und sechzig. Todeszeitpunkt: Kurz nach Mitternacht. Sie versuchte, mehr als die Überschriften im Telegrammstil zu entziffern, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Charlie, dachte sie. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht mit Charlie.
»Gutes Foto«, murmelte sie, weil sie annahm, dass er das gerne hören würde. Die Art, wie er sein geschmeicheltes in ein bescheidenes Lächeln herunterzuspielen versuchte, gab ihr Recht.
»Ein großer Tag für die Berliner Polizei. Festnahme kurz nach Leichenfund.«
»Also war es wirklich Mord?«
»Haussmann hat Fesselspuren an den Händen gefunden, aber nichts, was auf Gegenwehr schließen ließe. Das Opfer wurde vor seinem Tod betäubt. Vermutlich mit einer Spritze, denn diesen Cocktail aus Dopaminen und Ketaminen bekommen eigentlich nur Fachleute hin.«
»Mein Gott«, murmelte sie.
In Gehrings Blick leuchtete zum ersten Mal etwas Ähnliches wie berufliches Interesse auf. »Sie kennen sich aus?«
»Das eine betäubt, das andere lähmt. Das Opfer bleibt bei vollem Bewusstsein. Er hat also mitbekommen, wie er …«
»Ja«, sagte ihr Chef schnell, als ob er mit dem Satz auch die Erinnerung abschneiden wollte. »Ich weiß nicht, was im Hirn eines Menschen vorgeht, der so eine Tat plant und ausführt.«
»War sie geplant?«
»Wir gehen davon aus.« Seine Stimme klang leicht gereizt.
Sie reichte ihm die Zeitung zurück. »Solche Medikamente haben Tierärzte, Kliniken und Zoos in rauen Mengen.«
»Aber es bedarf doch einer gewissen Überlegung, sie auch einzusetzen. Vor allem, wenn man keinen Anästhesisten zur Seite hat, der die Atmung in Schach hält. Frau Rubin wusste sehr genau, was sie tat, und sie kannte sich aus. Auch ohne ihr Geständnis sind die Indizien mehr als belastend. Sie sind überführend. Außerdem wurden Sie mit einer nummerierten Schaufel niedergeschlagen. Registriert auf die Futtertierzucht.«
Sanela tastete mit der Rechten nach dem Kopfverband. Versuchte sich an Vorzeichen oder eine Ahnung zu erinnern, an etwas, das sie hätte misstrauisch machen sollen. Ihr fiel nichts ein. – Halt! Da war etwas. Der Versuch, den Rest einer Erinnerung festzuhalten und zu visualisieren, misslang. Sie sah Charlies hartes, kantiges Gesicht vor sich. Eine Bäuerin. Eine Magd. Eine Rattenzüchterin. Abweisend zunächst, aber offen und ehrlich, ein ungeschützter Spiegel ihrer Empfindungen. Doch ein einziges Mal hatte es so ausgesehen, als würde sie einen Vorhang zuziehen. Eine winzige Pause, ein minimales Überspielen von Unsicherheit. Reaktion auf eine Frage. Welche? Sie fiel ihr nicht mehr ein.
Gehring ignorierte ihre Ratlosigkeit,
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