Das Dorf der Mörder
Hand, mit der er Cara geschlagen hatte. Er war verunsichert. Am liebsten hätte er sie wohl um Verzeihung gebeten, aber das konnte er nicht. Er spielte die Rolle des Rächers, da entschuldigte man sich nicht. Jeremy wusste nur nicht, was Marten eigentlich rächte. Und welche Rolle er ihnen beiden dabei zugedacht hatte.
»Hör auf mit diesem Schmierentheater«, sagte er ärgerlich. »Damit kannst du vielleicht solche Lackaffen wie den da um den Finger wickeln, aber nicht mich.«
»Sie werden damit nicht davonkommen«, sagte Jeremy.
Der Mann drehte sich abrupt zu ihm um. Jeremy war bewusst, wie ungleich die Machtverhältnisse verteilt waren. Alles, was er wollte, war, die Aggressivität, die Marten gegen Cara richtete, von ihr abzuziehen.
»Mit was denn?«, fragte er, gefährlich ruhig. »Charlie ist tot. Schuld daran sind nicht nur die, die mitgemacht haben. Sondern auch die, die nicht sehen wollten, was sich vor ihren Augen abgespielt hat. Cara ist eine von denen.«
»Cara ist hier, um sich zu erinnern.«
»Ach ja, ist sie das?«
»Wenn Sie irgendetwas zu sagen haben, dann tun Sie es.« Jeremy gelang es, trotz seiner gefesselten Hände einigermaßen gerade zu sitzen. »Helfen Sie ihr. Und sich. Sie sind doch am Ende. Wenn das Ihrer Weisheit letzter Schluss ist, zwei unschuldige Menschen zu fesseln und einzuschüchtern, dann haben Sie es wirklich nicht weit gebracht.«
»Meiner Weisheit letzter Schluss.« Marten drehte sich betont anerkennend zu Cara um. »Einen Studierten hast du hier angeschleppt. Einen, der glaubt, es würde ums Einschüchtern gehen. Als ob es das wäre, was hier jemals gezählt hat.«
Er stand auf und ging auf Jeremy zu, der sich nun sicher sein konnte, die ganze Aufmerksamkeit des Mannes auf sich gelenkt zu haben. Hinter ihm sah er, wie Cara erneut verzweifelt versuchte, ihre Fesseln zu lockern.
»Hier geht es um Taten«, sagte Marten. Er stieß seine Schuhspitze in Jeremys Seite. »Um vollendete Tatsachen. Ich habe nie jemanden eingeschüchtert. Damit wäre ich hier nicht weit gekommen. Weißt du was?«
Er ging in die Hocke. Jeremy erkannte auf dem verunstalteten Gesicht mit der schiefen Nase eine Narbe. Sie zog sich quer über die rechte Wange und über den Mund. »Ich wollte, dass sie wissen, wenn es ans Sterben geht. Leyendecker, der Mann im Tierpark, hat es gewusst. Er wurde bei lebendigem Leib gefressen. Und jetzt interessiert dich sicher, welches perverse Hirn sich das ausgedacht hat. War es Charlie? War es vielleicht ihre süße Schwester Cara? Oder ich? Oder vielleicht alle zusammen, die jetzt selber im Dreck liegen?«
»Du hast sie doch nicht mehr alle!«, schrie Cara.
Blitzschnell drehte sich Marten zu ihr um, sie erstarrte gerade noch rechtzeitig, sodass er ihre verzweifelten Bemühungen, sich der Fesseln zu entledigen, nicht mitbekam.
»Zu dir komme ich noch.«
Zu Jeremys größtem Erstaunen packte der Mann ihn am Arm und zog ihn hoch. Er war einen halben Kopf größer als er selbst. Seine Hand war schwielig, sein Griff fest, aber nicht schmerzhaft. Er wollte nicht quälen, noch nicht. Er wollte einfach nur alles, was ihn störte, so schnell wie möglich aus dem Weg schaffen.
»Du willst es wirklich wissen?«
»Ja«, keuchte Jeremy im Würgegriff.
»Wegen dieser kleinen Schlampe da?«
Cara hörte für einen Moment auf, an ihren Fesseln zu zerren. Sie sah erschrocken zu Jeremy, als wäre seine Antwort auch ein Urteil.
»Wegen ihr und allen anderen auf dieser Welt, die man vor Leuten wie dir schützen muss.«
Der Griff lockerte sich etwas. Martens Blick wanderte über Jeremys Gesicht, blieb schließlich an dessen Augen hängen.
»Und wenn es zu spät ist?«
»Es gibt kein zu spät«, sagte Jeremy. »Das akzeptiere ich nicht.«
Marten ließ ihn los. Schwer atmend kippte Jeremy vornüber, konnte sich aber noch auf den Beinen halten. Der Schmerz in seinem Kopf sandte rasende Impulse in alle Körperregionen. Marten griff nach seiner Schulter und zog ihn ein paar Schritte Richtung Küchentür.
»Dann«, sagte Marten, »wirst du es lernen.«
44
M arten war ein lieber Junge. Immer.«
Walburga wischte einen Krümel von der speckigen Wachstuchdecke. Gehring, sein aufgeschlagenes Notizbuch auf den Knien, weil er den Ledereinband nicht auf den Tisch legen wollte, unterdrückte einen Seufzer. Wann traf endlich dieser verfluchte Streifenwagen ein?
»Wir hatten es alle nicht leicht hier. Keine Jobs, immer mehr Leute zogen weg. Und Marten fand keinen Ausbildungsplatz.
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