Das Dorf der Mörder
werden. In welchem Zustand auch immer.«
»Hören Sie mir gar nicht zu? Wir waren es nicht! Keine von uns, keine. Sie sind verschwunden! Von alleine! Einer nach dem anderen!«
Gehring reichte es jetzt. Er holte sein Handy heraus und wählte Schwabs Nummer. Sie war sofort am Apparat.
»Ich brauche einen Haftbefehl auf den Namen Walburga Wahl, wohnhaft Wendisch Bruch«, sagte er. »Und gegen alle noch hier lebenden Einwohnerinnen. Ich vermute, dass sie ihre Männer getötet haben.«
»Nein«, wimmerte Walburga.
»Und wo bleibt endlich die Verstärkung aus Jüterbog? Ich brauche die Spurensicherung. Wir müssen das ganze Dorf auf den Kopf stellen. Ich befürchte, dass die Leichen alle irgendwo in der Nähe verscharrt worden sind.«
»Oh mein Gott«, stöhnte Schwab. »Ich kümmere mich darum.«
Er legte auf. Walburga war in sich zusammengesackt. Einen Moment lang glaubte er, sie wäre ohnmächtig geworden und würde gleich zu Boden fallen. Er ging auf sie zu und berührte sie an der Schulter.
»Bei allem, was mir heilig ist, wir waren es nicht«, stammelte sie.
»Das wird der Haftrichter entscheiden. Kommen Sie mit. Sie sollten sich ein paar Sachen zusammenpacken.«
Mühsam, als sei sie um Jahre gealtert, stemmte sie sich hoch. Gehring half ihr, die Tür zu erreichen, wo sie sich abstützte und Atem holte.
»Sie können mich einsperren und verurteilen. Vielleicht sogar zu Recht, denn ich war froh, als er nicht mehr da war. Die Ehe mit ihm war die Hölle auf Erden. Und die letzten achtzehn Jahre waren die glücklichsten meines Lebens. Deshalb habe ich auch nicht nach ihm suchen lassen. Es hätte ja sein können, dass sie ihn finden. Aber ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Wer dann, Frau Wahl?«
»Wir wissen es nicht. Wir haben selten darüber gesprochen. Es war ein Tabu. Und als die Jahre vergingen und nichts Böses mehr passiert ist, haben wir geglaubt, dass sich alles irgendwann von selber regelt. Das war ja auch so. Keiner hat mehr Fragen gestellt. Niemand ist auf die Idee gekommen, Menschen zu suchen, die keiner vermisst. Die meisten bekamen doch Stütze, die irgendwann zur Rente wurde. Alles konnte schriftlich erledigt werden. Wir haben sogar auf ihre Namen ab und zu was bei Otto bestellt. Wir hatten unseren Frieden. Es war vielleicht nicht rechtens, aber es war auszuhalten. Sehr gut auszuhalten.«
»Erzählen Sie das dem Haftrichter. Ich glaube, der sieht das anders.«
»Sie war es.«
»Charlotte Rubin? Sie soll als Teenager ein halbes Dutzend Männer getötet haben? Machen Sie sich nicht lächerlich.«
Er wollte die Tür öffnen, doch mit einer schnellen Bewegung, die er ihr nicht zugetraut hatte, schlug sie sie wieder zu. Ihre Hand griff nach seinem Arm und klammerte sich dort fest.
»Aber jemand hat unsere Männer geholt! Wir waren es nicht!«
»Warum haben Sie dann nichts dagegen unternommen? Sie hätten zur Polizei gehen müssen.«
»Damit alles rauskommt?«
»Das wäre es doch sowieso irgendwann.«
Sie biss sich auf die Lippen. Große, fast unnatürlich große Tränen rannen aus ihren Augen. Sie rang mit sich. Es war nicht gespielt. Es war ein Kampf, der sich vor seinen Augen abspielte.
»Sie … Sie verstehen mich nicht.«
Sie taumelte zurück zu ihrem Holzklotz und setzte sich, bevor ihr die Beine wegsackten. Aus der Tasche ihres Kittels holte sie ein zerknülltes Papiertaschentuch und tupfte sich die Augen ab. Gehring folgte ihr. Am liebsten wäre er losgerannt, kopflos, ohne Plan und Ziel, nur um aus diesem Schuppen und der Nähe dieser Frau herauszukommen, die sie alle zum Narren hielt.
»Es müssen sich schreckliche Dinge dort ereignet haben.« Ihre Worte wurden begleitet von herzzerreißendem Stöhnen. Vielleicht spielte sie das nur, vielleicht ging es ihr auch wirklich sehr schlecht. »Wir wissen es nicht genau. Ich glaube, die Frau war nicht immer damit einverstanden, was mit ihr gemacht wurde.«
»Sie reden von Margot Rubin.«
»Ja.«
»Sie wurde vergewaltigt.«
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei. Man hat nicht darüber geredet. Wenn sie im Dorf auftauchte, haben wir sie geschnitten. Sie war noch nicht mal hübsch. Ich weiß nicht, was die Männer an ihr gefunden haben.«
»Verfügbarkeit?«, warf Gehring in den Raum.
»Vielleicht. Sie war dick und ungepflegt. Asozial. Ein paar von uns haben es mal beim Jugendamt und beim Magistrat versucht, aber man hat ihr nichts anhaben können.«
»Ihr? Geben Sie dieser armen Frau etwa die Schuld daran, dass sie offenbar
Weitere Kostenlose Bücher