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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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über Jahre hinweg mit Wissen ihres Mannes … benutzt wurde? Von einem ganzen Dorf? Als billige Gelegenheit? Für ein paar Flaschen Schnaps?«
    Sie sackte zusammen, röchelte und kippte vornüber. Mit einem satten Klang fiel sie auf den Betonboden. Gehring stürzte zu ihr, klopfte ihr auf die Wangen und tastete nach ihrem Puls. Schwach, unregelmäßig, spürbar.
    Er wählte den Notruf und bestellte einen Krankenwagen. Die Frau am anderen Ende der Leitung bestätigte ihm, dass er in spätestens dreißig Minuten eintreffen würde. Wenigstens das funktionierte.
    »Frau Wahl?«
    Sie tastete nach seiner Hand und zog ihn näher zu sich heran.
    »Ich bin nicht schlecht«, flüsterte sie. »Ich habe nur darauf gewartet, dass irgendjemand als Erster was sagt.«
    Er stand auf und ließ sie allein.

46
    A ls Sanela wieder erwachte, drang Licht durch die Ritzen der Holzbohlen. Nicht viel, eigentlich nur ein winziger Schimmer, aber sie konnte sich diesen Umstand trotzdem nicht erklären. Die Leuchtziffern ihrer Uhr funktionierten nicht mehr, und so robbte sie direkt unter den spärlichen Lichteinfall. Mit Müh und Not erkannte sie, dass die Zeiger auf halb sechs standen. Die Luft hatte sich auch verändert. Sie war trockener geworden, und der Gestank nach Moder, Morast und Gülle war nicht mehr so überwältigend.
    Was war geschehen? Hatte jemand eine Plastikfolie über den Boden gelegt gehabt und sie weggezogen, während sie schlief? Sie musste die ganze Nacht durchgearbeitet haben. Zentimeter für Zentimeter hatte sie die Erde durchwühlt und war dabei auf noch mehr Knochen und Kleidungsreste gestoßen. Einen Schlüsselbund. Eine Brieftasche. Ein uraltes Handy, eines der ersten Generation – klobig, schwer und natürlich kaputt. Vier Paar Schuhe: Turnschuhe, Stiefel, Halbschuhe. Und einige Dinge, die sie nicht mehr identifizieren konnte, weil sie sich schon fast aufgelöst hatten. Eventuell Spielzeugtiere. Keine Windeln, keine Babykleidung. Ein paar Lumpen, die vielleicht einmal eine Decke oder ein Handtuch gewesen waren.
    Vier erwachsene Tote, drei Kinder. Die Erwachsenen bekleidet, die Kinder nackt.
    Sie kroch noch näher an die Ritze heran und versuchte, außer dem Licht auch etwas von der Luft einzufangen, die durch die Öffnung strömen musste. Ein Wunder, dass sie noch nicht erstickt war. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte. Eines Tages würde man die Überreste von fünf Erwachsenen finden, und einer davon wäre sie. Sie wusste nicht, wann das sein würde. Gehring müsste doch schon längst unterwegs sein. Sie hatte ihm doch alle Fakten auf dem Silbertablett serviert.
    Jedes Mal, wenn sie mit ihren Gedanken an diesem Punkt angelangt war, zwang sie sich innezuhalten. Der nächste Schritt wäre die Verzweiflung, und mit der wäre niemandem geholfen. Am wenigsten ihr selbst. Sie musste durchhalten.
    Es war zu wenig Luft. Die Schwäche übermannte sie erneut. Sie fürchtete sich davor, wieder einzuschlafen. Vielleicht würde sie nicht mehr aufwachen.
    Und dann sang ein Vogel.
    So fern, so unerreichbar weit weg.

47
    D as Tor zum Aussiedlerhof stand halb offen. Eine Lerche flatterte auf, schraubte sich in den Himmel und schwebte in elegantem Schwung davon. Es war, als ob mit ihr der letzte Rest Leben aus diesem stillen Dorf floh.
    Gehring zog die Waffe und atmete tief durch. Er wusste, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte, denn Beara war diesen Weg vor ihm gegangen. Er erinnerte sich an ihr Gesicht: oval, große, dunkle Augen, die schmalen Brauen spöttisch hochgezogen. Immer perfekt, immer wie auf Hochglanz poliert. Ein kleiner Mund, der selten lächelte. Ihr Übereifer, ihre rotzige Art, wenn sie wusste, dass keiner außer ihm zuhören konnte. Ihr Witz, der manchmal aufblitzte und den er jedes Mal so arrogant mit dem Hinweis auf Dienstgrade abgewürgt hatte. Ihre maßlose Enttäuschung, als er ihr nicht glaubte. Das Herz zog sich ihm zusammen. Wenn ihr etwas passiert war …
    Und so war sie allein bis ans Ende der Welt gelangt, nach Wendisch Bruch. Er hatte nicht auf sie gehört, er hatte sie im Stich gelassen. Und jetzt, wo es fast zu spät war, glaubte er ihr. Glaubte so fest wie sie an ihren Verdacht, der sich nach und nach zur Gewissheit einer Tat verdichtet hatte, deren Größenwahn ihresgleichen suchte. Genau wie das Motiv. Eine Frau war zu Freiwild geworden, und jemand hatte sie gerächt. Einen Mann nach dem anderen hatte dieser Jemand umgebracht, sogar den letzten, Leyendecker, den Nachzügler. Den

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