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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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nicht öffnen, und das war auch gut so. Doch es gab Menschen, die das konnten. Bei einigen sprang es einfach auf. Andere tüftelten lange an ihrer ureigenen Zahlenkombination. Dem Code des Bösen. Der Mathematik des Verbrechens. Der Geometrie des Dreiecks von Motiv, Schuld und Verschleierung. Sie wusste, dass man das Böse auf Abstand hielt, wenn man es rein naturwissenschaftlich betrachtete. Das machte es nicht kleiner, aber seine Größe kalkulierbar.
    Sie wartete. So lange, bis sie sicher sein konnte, dass alle ihr Urteil über sie gefällt und sich darüber ausgetauscht hatten. Gerade ein Mann wie Gehring würde nicht so schnell zurückrudern. Sie hatte Zeit. Aber sie vergaß das aufgeschlitzte Ferkel nicht und Charlies Zärtlichkeit für all jene Kreaturen, die jung und unbeschützt waren.
    Als sie zum ersten Mal die zweitausend Meter in unter zwölf Minuten geschafft hatte, wagte sie sich eines Abends Ende Juli in den dritten Stock. Vom Innenhof aus hatte sie gesehen, dass in Gehrings Büro noch Licht brannte. Es war kurz nach acht, und als sie klopfte, merkte sie, wie nervös sie war. Sie wartete auf sein »Herein«, trat ein und fand ihn hinter seinem Schreibtisch beim Studieren einer Handakte.
    »Frau Beara. Das ist ja eine Überraschung.«
    Seinem Ton war nicht zu entnehmen, ob sie eine der guten oder der schlechten Sorte war. Er schlug die Akte zu.
    »Setzen Sie sich. Wie geht es Ihnen?«
    »Gut, danke.«
    Sie nahm Platz und sah sich in dem karg eingerichteten Zimmer um. Ein alter Monatskalender vom vorletzten Jahr an der Wand, galoppierende Pferde, Aktenschränke, ein Computer. Keine Bilder, keine Pflanzen. Ein Waschbecken neben der Tür. Dass es das noch gab.
    »Was führt Sie zu mir?«
    »Ich habe gar nichts mehr von Ihnen gehört. War meine Aussage denn hilfreich?«
    Er lehnte sich zurück und fuhr mit den Fingerspitzen über die Schreibtischkante. Ihr fiel auf, dass er keinen Ehering trug. Dabei hieß es doch, er und der Dienststellenleiter würden auch öfter mal gemeinsam mit den Ehefrauen segeln gehen. Sie hatte sich vorsichtig umgehört. Sie wollte wissen, wie er tickte. Er schien, abgesehen von der unmöglichen Art, seinen durch trainierten Körper zur Schau zu stellen, der Typ Familienvater im höheren Dienst zu sein. Häuschen in Stadtrandlage, von den Eltern oder Schwiegereltern mitfinanziert, CDU -Wähler, als Chef offenbar erträglich. Seine Autorität setzte er punktuell und wohlüberlegt ein. Ihr gegenüber zum Beispiel. Im Moment schien sie ihn aber in einer halbwegs moderaten Phase erwischt zu haben. Er trug ein einfaches weißes T-Shirt. Eine leichte Anzugjacke aus Leinen hing über der Lehne seines Stuhls.
    »Vom philosophischen Gesichtspunkt aus durchaus«, sagte er und hob die Augenbrauen. Das sah überheblich aus. Aber sie wäre gewiss nicht der Mensch, der ihn darauf hinweisen würde.
    »Also nein.«
    Er lächelte. Auch das konnte er nicht. Viele Männer konnten nicht lächeln.
    »Machen Sie sich nichts draus. Sie sind gut aus der Nummer herausgekommen. Alles Weitere wird man sehen.«
    »Hat Frau Rubin inzwischen noch eine Aussage gemacht?«
    »Nein. Sie redet nicht.«
    »Immer noch nicht?«
    »Kein Wort. Der Staatsanwalt gibt jetzt ein Gutachten in Auftrag. Unterstützt wird er dabei von Marquardt, Rubins Anwalt. Er plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit. Schwere Kindheit, Schläge, Alkohol, kein Schulabschluss. Geistig zurückgeblieben. Das Übliche.«
    »Ich weiß nicht …«
    »Unsere Ermittlungsergebnisse liegen bei der Staatsanwaltschaft, die Frau ist in Haft, der Fall damit für uns erledigt. Sie hat ein Geständnis abgelegt. Zwar nur in einem Satz, aber das reicht.«
    Sanela legte den Daumen unter den Holstergurt. Wenn er zu lange auf ihrer Schulter lag, schmerzte die Stelle noch.
    »Und wenn ich es einmal versuche? Mit mir hat sie doch geredet. Sie war normal. Intelligent. Vielleicht ein bisschen schräg, aber auf keinen Fall verrückt.«
    Gehring stieß sich mit den Fingern von der Schreibtischkante ab. Sein Stuhl drehte sich dadurch weg vom Tisch, und er legte den linken Knöchel aufs rechte Knie. Sollte lässig aussehen. Tat es aber nicht.
    »Das ist keine gute Idee. Wir haben kompetente Mitarbeiter, die sich in Verhören mit solchen Personen auskennen.«
    Sanela öffnete den Mund, aber er schnitt ihr das Wort ab.
    »Ich will Sie nicht entmutigen. Aber ich wüsste nicht, was das bringen sollte.«
    »Mich irritiert, welchen Respekt sie vor dem Leben hatte. Egal, welches.

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