Das Dorf der Mörder
Für sie war eine Maus genauso viel wert wie ein Elefant. Und dann schlitzt sie ein Ferkel bei lebendigem Leib auf? Sie hat über alles geredet. Über Leben und Tod, über Kaffee und Gas. Sie hat mir sogar den Hinweis mit den Knochentonnen gegeben. Das macht doch niemand, der dort ein paar Stunden zuvor noch eine halbe Leiche versenkt hat.«
»Genau das meine ich. Und genau aus diesem Grund bin ich froh, dass Ihre Aussage im Prozess keinerlei Gewicht haben wird. Sie sind voreingenommen. Sie beurteilen den Fall nicht nach Sachlage, sondern nach Gefühl.«
»Ich kenne die Sachlage nicht. Aber wenn ich Akteneinsicht bekommen dürfte …«
»Auf keinen Fall.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass dieselbe Person nett zu mir gewesen ist und mich wenig später um die Ecke bringen will.«
»Sehen Sie?« Er beugte sich vor. Wieder fixierte er sie mit einem stechenden Blick aus den irritierend eng stehenden Augen. »Sie begreifen es nicht. Und so wird es noch viele Dinge geben, bei denen selbst Profis beginnen, an sich und ihrer Vorstellungskraft zu zweifeln. Ein Fall wie dieser ist mir noch nie vorgekommen. Aber er ist geschehen, und wir alle müssen versuchen, das zu verstehen. Wir fangen damit an, indem wir sagen: Ja, diese Frau hat bestialisch getötet. Sie sieht nicht aus wie ein Monster, aber sie hat so gehandelt. Vielleicht werden wir die Gründe nie erfahren. Aber wir müssen akzeptieren, dass es geschehen ist und dass es einen Täter gibt.«
Sanela fühlte sich ausgeschlossen aus diesem »wir«. Es fühlte sich an wie ein kleiner Stich in der Brust. Sie erinnerte sich an viele dieser Nadelstiche. Sie hatten begonnen, als sie in diesem Land angekommen war, in dem es keinen Krieg geben sollte und keine Serben (Letzteres sollte sich als unwahr herausstellen), in dem keine Landminen detonierten (wahr) und in dem man kleine Mädchen, die noch Jahre bei jedem Silvesterböller zitternd hinter das zerschlissene Sofa im Flüchtlingsheim krochen, mit offenen Armen empfangen würde (die größte und deshalb auch am schwersten zu verzeihende Lüge, die ihr Vater ihr jemals aufgetischt hatte). Ein »wir« für Sanela gab es allenfalls noch in den engen Zimmern und den Gemeinschaftsküchen der Flüchtlingscontainer. Es hörte auf, als ihr Vater und sie eine kleine Wohnung in Tempelhof zugeteilt bekamen und Sanela in die Schule kam.
»Sie werden dich mögen.« Die nächste Lüge. »Sobald du ihre Sprache sprichst, wirst du Freunde finden.« »Lern, dann werden sie dich akzeptieren.« »Sie meinen es nicht so.« Und schließlich: »Margarine ist kein Schimpfwort.« Lügen, Lügen, Lügen.
»Sie sind keine Auserwählte«, sagte Gehring.
»Wie?« Hatte sie etwas verpasst?
»Charlotte Rubin hat in Ihrer Anwesenheit nichts anderes gemacht als sonst auch: Sie funktionierte. Sie redete, war unbefangen, hat die Tat vielleicht völlig ausgeblendet. Bis zu dem Moment, in dem wir ihr auf die Schliche kamen.«
»Ich.«
»Wir.«
»Kann ich trotzdem die Ermittlungsakte sehen?«
»Nein.«
Sanela stand auf. Das Gespräch war beendet. Sie war schon an der Tür, als er sagte: »Ich schulde Ihnen noch einen Kaffee.«
Verwirrt drehte sie sich um.
»Hat die Cafeteria noch auf?«
»Ich … glaube nicht.«
Er erhob sich ebenfalls und nahm sein Jackett von der Stuhllehne.
»Dann dauert es ein paar Minuten. Unten an der Ecke ist doch einer dieser Coffeeshops. Schwarz? Oder lieber einen Latte?«
Sanela begriff nicht.
»Und rühren Sie nichts an, bis ich wieder da bin.«
Er ging. Sanela stand immer noch im Raum und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Runter bis zum Coffeeshop und zurück – das dauerte doch mindestens eine Viertelstunde. Er konnte doch nicht im Ernst erwarten, dass sie nach Dienstschluss noch so lange auf ihn warten würde. Außerdem war er verheiratet. Was sollte das werden?
Ihr Blick fiel auf den Aktenschrank. Die Ordner standen, nach Monaten und Namen sortiert, im Regal. Langsam ging sie darauf zu, blieb stehen, legte den Kopf schief und massierte ihre linke Schulter. März, April, Mai … Rubin. Charlotte Rubin.
Sie lauschte. Alles war still. Gehring war wohl noch im Treppenhaus. Sie zog die Akte aus dem Regal und blätterte sie kurz durch. Circa hundert Seiten. Zu viel für fünfzehn Minuten. Genug, um sie mit nach Hause zu nehmen und am nächsten Tag zurückzubringen. Im Hof wurde ein Motor angelassen. Sie ging zum Fenster und sah Gehrings schwarzen Van, der langsam zum Tor rollte. Nie im Leben fuhr er
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