Das Dorf der Mörder
wenn er sie überhaupt bemerkt hatte.
»Rubin versuchte noch zu flüchten, ist aber nicht weit gekommen. Nur bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Dort ließ sie sich widerstandslos festnehmen.«
»Aber warum sollte ausgerechnet sie mich niederschlagen?«
»Sie waren an den Abfallbehältern. Was haben Sie da eigentlich zu suchen gehabt?«
»Intuition. Haben Sie was gefunden?«
»Alles, was wir suchten. Die Schweine haben nur kleinere Körperteile gefressen. Größere Leichenteile nagten sie ab, ließen aber die Knochen liegen. Ist Ihnen das zu detailliert?«
Er fixierte sie, und sie hielt seinem Blick stand. Langsam, so gut es möglich war, schüttelte Sanela den Kopf.
»Nein.«
»Wir vermuten den Tathergang so: Die Frau hat den Mann sediert, ihn allerdings bei vollem Bewusstsein gelassen und dann mit einer Schubkarre ins Gehege verbracht. Eine Bache hatte gerade geworfen. Frau Rubin schnappte sich ein Ferkel, schlitzte es auf und brachte die ganze Herde so an den Rand der Weißglut. Die stürzte sich auf den Mann, der sein eigenes Drama wehrlos über sich ergehen lassen musste.«
Der Würgereiz kam so unvermittelt und war so stark, dass Sanela befürchtete, ihn nicht mehr beherrschen zu können.
»Am frühen Morgen sah sie nach, was noch übrig war. Die großen Teile brachte sie weg. Die Hand und den Oberschenkel hat sie vielleicht übersehen, oder die – wie heißen diese Viecher?«
»Pekaris.«
»Oder die Pekaris haben sie nicht rangelassen. Sie hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass die Spur so schnell zu ihr führen würde. Aber dann taucht eine Schutzpolizistin auf und schnüffelt in den Abfalltonnen herum. Sie kriegt Panik. Stress. Wir haben vor ihren Augen die Fährte aufgenommen, da würde jeder nervös werden. Am Nachmittag hätte die BSR die Tonnen geleert. – Ich habe Sie gefunden. In den Büschen hinter der Klinik.«
»Sie?«
»Ihr Kollege machte sich Sorgen, weil Sie nicht an der Absperrung auftauchten. Und ich hätte doch ganz gerne Milch in meinem Kaffee gehabt.«
Gehring fand den Witz lustig. Sanela gelang nur eine gequälte Grimasse. Er stand auf und ging ans Fenster. Sie konnte von ihrem Bett aus nur den Himmel sehen. Aber unten mussten sich interessante Straßenszenen abspielen, denn er blieb einen Moment dort stehen, als ob etwas seine ganze Aufmerksamkeit fesseln würde.
»Wer ist das Opfer?«
»Nicht aktenkundig, aber wir vermuten, dass es sich um einen Mann aus Wismar handelt. Er sollte heute Morgen aus dem Hotel auschecken, ist aber spurlos verschwunden. Der Beschreibung nach könnte es passen. Die Kollegen prüfen das gerade. Wir sind erst am Anfang.«
»Und was sagt Frau Rubin?«
»Sie redet nicht.«
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und wippte kaum merklich vor und zurück. »Wir arbeiten noch am Muster und daran, in welcher Reihenfolge sich die Tat ereignet hat. Wir warten auf die weiteren Laborergebnisse. Aber wir sind ziemlich sicher, dass sich alles so zugetragen hat, wie ich es Ihnen eben – übrigens vertraulich – mitgeteilt habe.«
»Welche Indizien gibt es denn noch außer einer … ähm … registrierten Schaufel?«
Jetzt kam der Witz bei ihm nicht an.
»An Rubins Stiefeln fanden wir Erde aus dem Gehege. Ein vor wenigen Wochen gestohlen gemeldeter Generalschlüssel wurde bei ihr gefunden. An der Schubkarre, mit der Leichenteile transportiert wurden, fanden wir ihre Fingerabdrücke. Noch ist die KTU nicht beendet, aber wir sind sicher, dass sich Blut des Opfers auch an Rubins Arbeitskleidung befindet. Sie wohnt im Tierpark. Und sie kennt sich mit Schweinen aus.«
»Sie ist auf einem Bauernhof groß geworden.«
Gehring hörte mit dem Wippen auf und drehte sich um. »Woher wissen Sie das? Kennen Sie sie?«
»Ich habe kurz vorher noch mit ihr geredet.«
»Sie haben … sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Worüber?«
»Über ihren Job. Die Tiere. Das Töten. Sie ist Rattenzüchterin.«
Gehring kam zurück, hob die Zeitung vom Stuhl, knüllte sie zusammen und warf sie in den Abfalleimer. Er war wütend. Und da sie unter vier Augen miteinander redeten, musste er es auch nicht rücksichtsvoll verbergen.
»Wie kommen Sie dazu? Hatten Sie den dienstlichen Befehl? Was erlauben Sie sich, einfach in unsere Ermittlungen einzugreifen?«
»Sie wollten Kaffee.«
»Ja und?«
»Sie hat ihn gekocht.«
Er ließ sich auf den Stuhl fallen. Vielleicht schoss ihm gerade durch den Kopf, wie er diesen Auftrag an eine weisungsgebundene
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