Das Dorf der Mörder
Arbeit gezeichnetes Gesicht. Sie war 34 Jahre alt, sah aber aus wie Mitte vierzig. Wie beim letzten Mal trug sie einen zerknitterten dunkelblauen Hosenanzug billiger Machart. Vermutlich das, was die Staatskasse bereit war auszugeben, wenn für ein paar Stunden die Häftlingskleidung gegen Zivil ausgetauscht werden musste. Oder sie besaß nichts anderes.
Jeremy hatte noch vor ihrer ersten Begegnung gewusst, wer sie war. Alle Zeitungen hatten über den Fall berichtet. Die einen distanziert, die Boulevardblätter mit bemerkenswerter Detailkenntnis und Überschriften wie Steinschleudern: Die Bestie. Das Tier. Der Dämon. Die Teufelin.
Oder: eine schwer kranke Frau. Mit starren, linkischen Bewegungen und verunsichert von der Aussicht, zwei Stunden lang als Mensch wahrgenommen zu werden. Sie war hier, weil der Staatsanwalt wissen wollte, ob ihre Tat die einer Zurechnungsfähigen oder einer Verrückten war. Professor Brock war einer der kompetentesten Gutachter, sein Urteil würde die Entscheidung maßgeblich beeinflussen. Insgesamt drei Tage hatte er für die Sitzungen veranschlagt. Dies war der zweite. Jeremy, seit einem halben Jahr an Brocks Institut für forensische Psychiatrie, durfte die Gesprächsprotokolle abtippen. Es war nicht viel Arbeit, denn sie redete nicht viel.
Er ging in die Teeküche und bereitete die Getränke vor. Er mochte Brock. Und diese Praxis. Er liebte die dunklen, behaglichen Räume, den Duft nach Leder und Pfeife, nach Staub auf Buchrücken und dem Terpentin im Möbelwachs, mit dem die Regale und Schreibtische poliert wurden. Manchmal glaubte er, im falschen Jahrhundert geboren zu sein. Brock war eine Kapazität auf dem Gebiet von Rückfallprognosen und der Schizoph renieforschung. Er war der Beste. Und für Jeremys Vater war nur das Beste gut genug. Jeremy hatte das Psychologiestudium mit gerade dem erforderlichen Eifer hinter sich gebracht, der ein Diplom nicht gänzlich ausgeschlossen hatte, und sich über seine Facharztausbildung nicht allzu viele Gedanken gemacht. Wenn er an seine Zukunft dachte, sah er auch eine holzgetäfelte Praxis. Allenfalls noch Menschen, denen er aus tiefen, existenziellen Krisen heraushelfen konnte. Aber er hatte nie das Böse gesehen. Bis sie gekommen war und es mitgebracht hatte.
Er wusste, dass man als angehender Psychologe nicht so denken durfte. Sie war krank. Hoffentlich. Denn das würde bedeuten, dass sie nie wieder in die Freiheit entlassen würde. Dass man versuchen würde, sie zu therapieren, damit sie vielleicht eines Tages verstehen würde, was sie getan hatte.
Während er wartete, dass das Wasser im Boiler heiß wurde, sah er durch die offenen Türen hinüber zu der Gestalt am Fenster. Sie wirkte kraftlos, hatte in der Haft wohl auch an Gewicht verloren. Sie hatte einen Neunzig-Kilo-Mann mit Drogen vollgepumpt, zu einer wild gewordenen Herde südamerikanischer Urwaldschweine geschleift und ihn dort seinem grausamen Schicksal überlassen. In einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der andere ihre Wellensittiche fütterten. Sie hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, Spuren zu beseitigen. Allenfalls die Knochen hatte sie noch eingesammelt und nachlässig entsorgt. So wie Menschen, die nach dem Grillen ihren Dreck nicht richtig auflesen. Das und der Überfall auf eine Polizistin war ihr dann zum Verhängnis geworden.
Sie war ruhig, beinahe unbeteiligt geblieben, als die Polizei sie wenig später anhand der Indizien überführt hatte. Über die Tat schwieg sie. Erklärte nichts, rechtfertigte nichts, fügte ihrem Ein-Satz-Geständnis keine Silbe mehr hinzu , war noch nicht einmal imstande zu sagen, ob sie ihr Opfer gekannt oder es einer Art innerem Zufallsgenerator überlassen hatte, diesen armen Mann auszuwählen.
Jeremy wusste Charlotte Rubins Geburtsdatum, er wusste um ihre Schulbesuche, Umzüge, die Eckdaten ihres Lebens. Lehre als Tierpflegerin in Dessau, ledig, kinderlos. Sie kam aus einem kleinen Dorf irgendwo im Fläming, hatte keinen Führerschein, war nie straffällig geworden, lebte in einer bescheidenen Arbeitswohnung, galt als freundlich, zurückhaltend und ruhig. Brock sagte, er sei noch am Anfang. Er müsse sich heranarbeiten an die Seele dieses Menschen, der plötzlich ohne jeden erkennbaren Grund getötet hatte. Das war seine Berufung, und genau das sollte eines Tages Jeremys Beruf werden.
Der Boiler summte. Er hängte einen Teebeutel in die eine Tasse und streute einen Löffel Pulverkaffee in die andere, goss Wasser
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