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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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damit zwanzig Meter weit zum Coffeeshop. Sie lächelte. Klemmte die Akte unter den rechten Arm, ging auf den Flur und sprintete los.

8
    D er Professor war nicht da.
    Das kam vor, aber nicht an Tagen wie diesen. Einem heißen Sommertag Anfang August.
    Es war kurz vor elf. Normalerweise hätte Prof. Dr. Dr. Brock sich vor einer Stunde mit einer Tasse Earl Grey in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und die Protokolle der letzten Sitzung noch einmal studiert. Er wäre beim ersten Läuten persönlich zur Tür gekommen, er hätte der Frau die Hand gegeben und die beiden Männer freundlich begrüßt. Die wenigen Schritte zur Garderobe wurde meist über das Wetter geredet, der Weg zum Wartezimmer galt der Frage nach dem Befinden. Und wenn die Frau voraus ins Büro gegangen war und der Professor die Tür mit einem letzten freundlichen Nicken in Richtung ihrer Begleiter hinter sich geschlossen hatte, konnte Jeremy zurück an seine Arbeit.
    Aber der Professor war nicht da.
    Jeremy Saaler entschuldigte sich und ihn wortreich, wobei er den Leuten da draußen im Treppenhaus in einer Art emotionalem Multitasking am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Er hatte eine so tiefe Abscheu vor der Frau, dass sich ihm fast der Magen hob. Aber er tat das, was man von einem Diplompsychologen in der Facharztausbildung erwartete, wenn der Chef aufgehalten wurde. Er bat sie herein, übernahm die Wetterfloskeln und erkundigte sich höflich, wie es ihr ginge. Sie tat so, als ob sie seine Frage nicht gehört hätte. Die beiden Beamten vom Vorführdienst folgten. Sie trugen graue Anzüge, in denen sie sich nicht wohlfühlten, weil sie mit der Uniform auch einen Teil ihrer Autorität abgelegt hatten. Sie sahen sich kurz an, der eine zuckte mit den Schultern, der andere nickte. Das Eichenparkett knarrte unter ihren Gummiprofilsohlen, gedämpft durch Läufer und persische Teppiche. Der Warteraum war eingerichtet wie ein Salon der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Holzvertäfelte Wände, ausladende Sessel, schwere Samtvorhänge, die immer noch einen Hauch Tabakduft verströmten, auch wenn hier seit Jahren nicht mehr geraucht werden durfte.
    Die Frau ging an der Sitzgruppe vorbei zum Fenster. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl und sah hinaus auf die dicht belaubten Kronen der Bäume. Die Männer – Jeremy glaubte sich zu erinnern, dass der Größere der beiden einen schwer zu merkenden Namen polnischen Ursprungs trug, irgendetwas wie Miesdrosny oder so ähnlich (den Namen des anderen hatte er sofort wieder vergessen) – setzten sich auf eine etwas linkische Weise, die verriet, dass Zwangspausen in ihrem Tagesablauf nicht vorkamen. Sie waren hier, um die Frau abzuliefern, Zeitung zu lesen und sie anschließend wieder zurück in die JVA Lichtenberg zu bringen – ein eng getakteter Ausgang. Verspätungen durften den Namen Busfahrerstreik tragen. Oder Stau auf der Stadtautobahn. Bauarbeiten an der S-Bahn-Strecke. Aber keinesfalls: Prof. Dr. Dr. Gabriel Brock ist weg, und niemand weiß, wo er steckt. Noch nicht einmal Mieze, die treue Arzthelferin, die eigentlich Frau Katz hieß und die ausschließlich von Brock so genannt werden durfte, wenn er sie um Überstunden bat. Sie hatte wie schon das erste Mal, als die Frau kam, den Vormittag freigenommen. Sie wollte dem »Tierpark-Monster« nicht begegnen. Jeremy beneidete Mieze. An solchen Tagen hätte er gerne mit ihr getauscht.
    Der ohne Namen sah verstohlen auf seine Armbanduhr.
    »Tee? Kaffee? Professor Brock wird gleich hier sein.«
    Hoffentlich. Jeremy versuchte seit einer halben Stunde, seinen Doktorvater auf dem Handy zu erreichen. Erfolglos. Sogar die Geheimnummer, die für äußerste Notfälle, hatte er gewählt. Mailbox. Er hatte zwei Nachrichten hinterlassen, obwohl er wusste, dass der Professor nie einen Termin versäumte. Nicht, seit dieser sich mit Besitz und Handhabung eines Smartphones mehr schlecht als recht arrangiert hatte. Wenn er sich verspätete, meldete er sich. In Jeremy regte sich eine leise Sorge. Was sollte er tun, wenn der Professor nicht auftauchte? Die drei wieder zurückschicken?
    Miesdrosny bat um einen Tee, der andere, klein, kugelig, kurzatmig, mit einer Stimme so dünn wie der Pullunder unter dem kneifenden Jackett, wollte Kaffee. Die Frau, wie bei der letzten Sitzung, nichts. Was sah sie? Vögel, die davonfliegen konnten? Menschen, die dorthin liefen, wohin sie wollten? Sie war kräftig, fast grobschlächtig und hatte ein früh gealtertes, von harter

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