Das Dorf der Mörder
Jeremy schluckte. Die Praxis lag im ersten Stock, und die Fenster waren nicht vergittert.
»Keine Sekunde. Die beiden Beamten sind doch bei ihr?«
»Ähm …«
»Ich bin gleich da. Gleich. Gehen Sie zu ihr und warten Sie.«
Der Professor legte auf. Jeremy hastete über den Flur ins Wartezimmer. Durch die offene Tür konnte er sehen, dass der Lederstuhl in Brocks Büro leer war. Die beiden Männer sahen erstaunt hoch, als er an ihnen vorbeieilte.
Sie war fort. Das durfte doch nicht wahr sein.
»Hallo?« Jeremy drehte sich um. Miesdrosny oder so ähnlich sprang auf, der ohne Namen entschied sich, erst einmal den Kugelschreiber in die offene Seite seines Rätselheftes zu legen.
»Wo ist sie?« Er lief zum Fenster – es war geschlossen.
»Ist sie weg?« Miesdrosny kam herein und sah sich um. Er ging auch zum Fenster, hob die Vorhänge, trat hinter den Schreibtisch, bückte sich, inspizierte die Tischplatte von unten und hielt plötzlich inne. Der ohne Namen im Nebenzimmer legte sein Heft weg und stand langsam auf. Miesdrosny kam wieder hoch.
Beide griffen in einer beinahe synchronen Bewegung in ihre Jacken und zogen die Waffen aus den Holstern. Miesdrosny sah auf die Bürotür, die so weit geöffnet war, dass sich hinter ihr, an der Wand stehend, ein Mensch verbergen konnte. Der ohne Namen kam erstaunlich schnell, leise und behände in den Raum. Noch nicht einmal das Parkett knarrte. Miesdrosny hob die Waffe und zielte auf das dunkle Holz, der ohne Namen griff nach der Klinke und zog die Tür langsam, ganz langsam zu sich heran. Jeremy konnte von seinem Platz am Fenster noch nicht sehen, was sich hinter ihr befand. Miesdrosnys Augen weiteten sich. Er atmete scharf ein. Ließ die Waffe sinken und schrie: »Scheiße!«
Der andere schnellte vor, knallte die Tür hinter sich zu und fuhr herum. Er zielte auf die Frau, die in der Hocke an die Wand gelehnt saß. In ihrem Hals steckte ein Bleistift, Blut schoss in pulsierenden Strömen aus der klaffenden Wunde. Sie sah mit glasigen Augen ins Leere. Die weiße Bluse unter ihrer Jacke glänzte rot. Ihre Handflächen waren blutverschmiert, sie musste sich den Stift mit unglaublicher Wucht in die Halsschlagader gerammt haben.
»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
Miesdrosny schien der zu sein, der wenigstens ansatzweise wusste, was zu tun war. Er beugte sich zu der Frau hinunter und zog ihr mit einem Ruck den Stift aus dem Hals. Seine groben Hände pressten sich auf die Wunde. Der Druck war zu groß, die Frau rutschte weg und fiel auf den Boden.
»Einen Krankenwagen!«
Der Namenlose suchte sein Funkgerät, bis ihm einfiel, dass dies ein Einsatz unter besonderen Bedingungen war – ohne Funkgerät. Er fand sein Handy, wählte und gab in kurzen Sätzen die Situation durch.
»Ein Handtuch! Haben Sie ein Handtuch? Wir müssen einen Druckverband machen. Schnell! Die kippt uns ja weg hier!«
Jeremy löste sich aus seiner Erstarrung. Er rannte in die Teeküche, räumte in fliegender Hast das Bord auf der Suche nach Handtüchern leer und fand sie schließlich unter der Spüle. Mit einem Stapel eilte er zurück. Die ganze Zeit über hämmerte ihm sein Herzschlag in den Ohren. Etwas in ihm signalisierte das Wort Schock. Aber er achtete nicht darauf.
»Machen Sie einen Druckverband!«
»Einen was?«
Der Beamte schoss einen Blick auf Jeremy ab, der einfache Wirbeltiere auf der Stelle getötet hätte.
»Druck. Ver. Band.«
»Ich kann das nicht.«
»Dann nehmen Sie die Finger Ihrer rechten Hand und drücken Sie sie mit der Linken auf die Wunde.«
»Was?«
»Ich denke, Sie sind Arzt?«, brüllte der Beamte.
Jetzt werde hier nicht panisch, dachte Jeremy trotzig. »Ich bin Psychologe. Anatomie gehört nicht zu unserer Ausbildung.«
»Aber schaden täte es nicht.« Der Polizist nahm Jeremys Hand und legte sie auf den Hals der Frau, die leise röchelte. Blut sickerte aus ihren Mundwinkeln. Vielleicht hatte sie die Luftröhre gleich mit erwischt. Ein metallischer Geruch stieg in Jeremys Nase. Er spürte glitschige Nässe. Ihm wurde übel.
»Fester!«
Jeremy gab mehr Druck. Er war erstaunt, wie hart die Muskeln unter der Wunde waren. Die Frau stöhnte. Sie verlor immer noch Blut. Miesdrosny rollte eines der Handtücher zu einer Wurst.
»Drauflegen. Pressen.«
Dann versuchten sie, die restlichen Handtücher um ihren Hals zu wickeln. Es war schwer, denn die Frau rutschte ihnen immer wieder aus den Armen. Ihr Blut befleckte Jeremys Gesicht, sein Hemd, einfach
Weitere Kostenlose Bücher