Das Dorf der Mörder
Rubin lag teilnahmslos im Bett, streng bewacht von zwei Vollzugsbeamten vor der Tür, und schaute unverwandt aus dem Fenster. Vielleicht dachte sie daran, dass sie das in Zukunft nur noch durch Gitter tun würde.
»Herr Professor Brock lässt Ihnen ausrichten, dass wir sofort weitermachen können, sobald es Ihnen wieder besser geht.«
Er drehte den Strauß ungeschickt in seiner Hand. Vielleicht sollte er nach einer Vase fragen.
»Das sind aber schöne Blumen«, sagte sie. Es war der längste Satz, den er bisher aus ihrem Mund gehört hatte. Er war so überrascht, dass er um ein Haar gelächelt hätte. Wiesenblumen. Sie hatten ihn an den Garten seiner Großeltern erinnert. Bauernfrauen boten sie in großen Kübeln in den Fußgängerzonen an. Er konnte nicht vorbeigehen, ohne einen Strauß zu kaufen. Hinterher wusste er nie, wohin damit. Meistens schenkte er ihn Mieze. Rubins Kompliment überraschte und berührte ihn. Es machte sie menschlich. Zwei Paralleluniversen hatten also doch eine minimale Schnittmenge.
»Mich erinnern sie immer an meine Kindheit«, sagte er.
»Mich auch.«
Jeremys Herz machte vor Schreck einen Satz. Brock hatte stundenlang versucht, ihr etwas über ihre Jugend aus der Nase zu ziehen. Und ihm gelang es mit einem Strauß Blumen. Er hätte sein Diktiergerät mitnehmen sollen.
»Die Sommer in Brandenburg?«, fragte er.
»Ja. Ist schon komisch. Den nassen Herbst und die langen Winter vergisst man. Und dass die Sommerferien oft verregnet waren, auch. Aber dann kommt so was und erinnert einen daran. Danke. Das ist nett.«
Er dachte, dass sie wohl nicht oft Blumen in ihrem Leben bekommen hatte. »Wie geht es Ihnen?«
Sie zuckte unsicher mit den Schultern. Wenn man einfach mal beiseiteschob, was sie getan hatte – und merkwürdiger weise gelang das Jeremy in dem Moment, in dem er sie in diesem Bett liegen gesehen hatte –, war sie gar nicht mehr so schrecklich, wie er sie bisher wahrgenommen hatte.
»Sie müssen sich keine Vorwürfe machen«, sagte sie. »Es kommt, wie es kommt.«
Er machte sich keine Vorwürfe. Oder doch? Er hätte sie nicht allein lassen dürfen. Aber wer denkt schon bei Bleistiften daran, dass man sie sich in den Hals rammen kann?
»Die Staatsanwaltschaft besteht auf dem Gutachten.« Er merkte, wie streng seine Stimme klang. Er versuchte es etwas freundlicher. »Ihr Prozess soll ja schon in knapp zwei Monaten beginnen. Da wäre es gut, wenn wir bald weitermachen könnten. Die Ärzte sagen, dass Sie Ende der Woche ins Haftkrankenhaus Plötzensee entlassen werden können. Professor Brock ist dann von einer Dienstreise zurück. Wenn wir die Zwei-Tages-Termine teilen und über die Woche legen, würde es gehen. Dann könnten wir noch in der Zeit abliefern.«
Als ob sie das interessieren würde. Sie sah wieder aus dem Fenster. Jeremy, dem eine Mischung aus schlechtem Gewissen und der komplizierten Logistik von Brocks Terminkalender zu schaffen machte, unterdrückte einen Seufzer. Warum fragte er diese Frau überhaupt? Sie konnten über ihren Tagesablauf verfügen.
»Es wäre gut, wenn Sie ein wenig mitarbeiten würden.«
Sie tat so, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Wie abgestumpft war dieser Mensch, wenn ihm sein eigenes Schicksal schon so egal war? Er legte die Blumen auf dem Nachttisch ab und wollte gehen, als etwas mit einem leisen, kaum hörbaren metallischen Geräusch zu Boden fiel. Er bückte sich. Es war eine kleine silberne Kette mit einem Anhänger.
Jeremy glaubte sich zu erinnern, dass Untersuchungshäftlingen der Besitz dieser Dinge gestattet wurde. Der Anhänger war eine kleine Medaille, auf der eine Frauenfigur mit einem Rad abgebildet war. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, war Charlotte Rubin schon hochgeschnellt. Sie riss ihm die Kette aus der Hand.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte sie Ihnen nicht wegnehmen.«
Rubin drückte das Kleinod an die Brust. Zum ersten Mal sah sie ihn an. Es war der Blick eines zutiefst verstörten Menschen, der nicht auch noch das Letzte verlieren wollte.
»Das ist eine hübsche Kette«, sagte er. »Wer ist die Frau auf der Münze?«
Vorsichtig öffnete sie die Hand und betrachtete ihren Schatz. »Die heilige Katharina.«
»Ah ja.«
Jeremy kannte sich nicht aus in der katholischen Kirche. Er war protestantisch erzogen worden, und zu Religion hatte er ein nachlässiges Verhältnis.
»Eine Schutzheilige? Ich kenne nur Christophorus. Und den auch nur, weil kaum ein Taxifahrer ohne ihn fährt. Also nicht, dass Sie
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