Das Dorf der Mörder
darüber und balancierte alles auf einem Tablett hinüber ins Wartezimmer. Die beiden Herren räusperten sich, beugten sich vor, nahmen Zucker und Milch, rührten mit den Löffeln. Der ohne Namen hatte ein Sudoku-Heft dabei.
»Wo ist Professor Brock denn?«, fragte sie.
Er erschrak, als die Frau sich zu ihm wandte, und er hoffte, die Reaktion gut genug verborgen zu haben. Sie hatte hellblaue, sanfte Augen. Immer wenn er sie ansah, fragte er sich, ob sie so auch ihr Opfer angesehen hatte. Den Mann, der wissend und schwitzend vor Angst die letzten Minuten seines Lebens in völliger Klarheit durchlitten hatte. Das Knirschen der eigenen Knochen. Das Schnalzen der Sehnen. Das Reißen von Fleisch. Der stinkende Atem der Schweine im Gesicht, der Biss in Hals, Nacken, Schultern. Arme weggeschleift, eine Hand im Wasserkanal treibend, Blut auf Sand, Blut überall …
Er konnte die Bilder nicht vergessen. Die dürren Worte des Gerichtsmediziners, der die Zähne und Füße der Schweine untersucht und den Inhalt der Mägen analysiert hatte. Der die Reste der Leiche wie ein Puzzle auf seinem Stahltisch arrangiert und fotografiert hatte. Das Protokoll der Tat und ihre Rekonstruktion legten Zeugnis ab vom Tun einer Kranken, und statt Mitgefühl empfand Jeremy Abscheu.
Er suchte nach den Spuren des Wahnsinns im Leben dieser Frau, in ihren Augen, ihrem Gesicht, und alles, was er fand, war an Belanglosigkeit grenzende Normalität.
»Ähm …« Jeremy räusperte sich. »Auf dem Weg. Möchten Sie vielleicht schon mal im Arbeitszimmer Platz nehmen?«
»Ja«, sagte sie.
Kleine, leise Stimme. Hochgezogene Schultern. Er versuchte ein Lächeln und trat zur Seite, um sie vorüberzulassen. Als sie ihn versehentlich mit dem Ärmel streifte, schauderte er.
»Um dreizehn Uhr müssen wir zurück«, sagte Miesdrosny oder so ähnlich. »Also wenn er nicht bald kommt …«
»Er kommt«, antwortete Jeremy. »Er weiß, dass Sie da sind.«
Die Frau, die Jeremy einfach nicht Charlotte Rubin nennen konnte, setzte sich in den Lederstuhl vor dem Schreibtisch. Mattes Licht, gedämpft von hellen Leinenvorhängen, fiel auf den dunklen Eichenboden. Jeden Morgen wischte die Putzfrau auch das letzte Stäubchen weg. Sie ordnete die Bleistifte der Länge nach – Faber Castell 2H –, spitzte sie, rückte das Telefon mittig, prüfte die Lage der Schreibgarnitur. Brock hasste Unordnung. Ein leerer Schreibtisch war für ihn Ausdruck höchster Professionalität. Jeremy dachte an das Chaos in seinem Arbeitszimmer, an seine Arbeit zum Thema »Risikobeurteilungen unter Anwendung von Prognoseinstrumenten« und an die Öffnungszeiten der Unibibliothek, als Miezes Telefon zwei Zimmer weiter klingelte.
»Das wird er sein. Wenn Sie mich entschuldigen?«
Froh, ihrer Nähe entrinnen zu können, eilte er durch den Flur ins Sekretariat und hob den Hörer ab.
»Praxis für Psychotherapie Professor Doktor Doktor Gabriel Brock, Jeremy Saaler am …«
»Lassen Sie mal.«
Jeremy fiel vor Erleichterung fast der Hörer aus der Hand. »Herr Professor! Wo sind Sie? Sie haben einen Termin mit …«
»Ich hatte einen Unfall.« Die Stimme des Professors klang, trotz der ständigen Heiserkeit, klar und ruhig. »Nichts Ernstes. Radfahrer. Aber Sie können sich denken, welche Diskussionen das nach sich zieht. Missachtet die Vorfahrt und will mir die Schuld in die Schuhe schieben. Typisches Kleinkindverhalten mit verminderter Schuldreflexion.«
Brock lachte leise. Er konnte alles – vom Preiskampf der Supermärkte bis zum Dackeldarwinismus – in drei Worten erklären. »Dabei, und das war weitaus unangenehmer, ist mir das Telefon unter den Vordersitz gerutscht. Ich nehme an, Sie sind derjenige, der permanent angerufen hat.«
»Es … ja … tut mir leid.«
»Aber warum denn? Ich bin schon auf dem Weg. Zehn Minuten. Jeremy, tun Sie mir einen Gefallen. Lassen Sie Frau Rubin nicht aus den Augen. Wo ist sie?«
Jeremy trat einen Schritt zur Seite und sah in den Flur. Die Tür zum Wartezimmer stand offen. Der ohne Namen rätselte in seinem Heft, Miesdrosny hatte von irgendwoher eines dieser Monster-Bestien-Teufelinnen-Blätter gezaubert und schlug ebenso lustlos wie geräuschvoll die Seiten um.
»In Ihrem Büro.«
»Allein?«
»Ja?« Unsicher ließ Jeremy die Antwort wie eine Frage klingen.
Der Ton des Professors veränderte sich, wurde klar, präzise und drängend. »Lassen Sie sie nicht aus den Augen. Sie darf keinen Moment ohne Aufsicht sein.«
Fluchtgefahr. Mein Gott.
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