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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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alles.
    »Nochmal!«, brüllte Miesdrosny. »Kopf hoch! Los!«
    Jeremy griff der Frau in den glitschigen Nacken. Ihre Augen waren halb geschlossen. Wenn sie bei Bewusstsein war, schien sie die hektischen Bemühungen der Männer völlig zu ignorieren.
    »Festhalten!«, brüllte Miesdrosny in sein Ohr. »Schließen Sie die Wunde!«
    Jeremys Finger suchten die Quelle des roten Stroms. Seine Hände umklammerten ihren Hals, als ob er sie erwürgen wollte. Nicht schlappmachen, dachte er flehentlich. Halt durch. Er begriff zum ersten Mal, was es hieß, wenn jemand unter den eigenen Händen wegstarb.
    Sie schlug die Augen auf, ihr Blick traf seinen, und für einige Augenblicke schien es, als ob Jeremy eine direkte Verbindung zu ihr hätte. Du bleibst hier, dachte er, du machst dich nicht einfach davon. Du wirst das jetzt durchstehen. Und alles, was danach noch kommen wird.
    Endlich gelang es Miesdrosny, den Verband anzulegen.
    Schnelle Schritte näherten sich vom Flur. Eine Aktentasche wurde fallen gelassen.
    »Was …«
    Brock stand in der Tür. Eine Sekunde schien er wie erstarrt, dann kam er zu ihnen und beugte sich zu der Frau hinab. Seine Hände tasteten nach ihrem Puls und fanden ihn. Er klopfte ihr auf die Wange und hob eines der flatternden Lider.
    Jeremy und Miesdrosny machten Platz und erhoben sich. Beide keuchten vor Anstrengung. Sie waren von oben bis unten mit Blut besudelt. Der Namenlose tauchte wieder aus der Versenkung auf, starrte einen Moment erschrocken auf seinen Kollegen und merkte dann, dass die Frau noch lebte, weil der Professor leise mit ihr sprach.
    »In drei Minuten.« Er sah zu Brock. »Krankenwagen. Hier.«
    Brock blickte zu Jeremy hoch, ohne die Miene zu verziehen. Der bückte sich, nahm den Bleistift und legte ihn auf ein übrig gebliebenes Handtuch.
    »Es ging so schnell.«
    »Ich hatte gesagt …« Brock brach ab. Er beherrschte sich. Vorsichtig ließ er den Kopf der Frau auf den Boden sinken. Auf dem Teppich breitete sich eine dunkle, nasse Lache aus.
    Es gab etwas, das Jeremy an Professor Brock schätzte. Das nichts mit seinem Wissen, seinem Können oder seiner Kompetenz zu tun hatte. Es war der Instinkt, sich vor die Herde zu stellen. Und zu der gehörte im Moment auch Jeremy.
    Er wusste nicht, für wie lange. Er hatte vom ersten Moment an geahnt, dass die Umstände, die ihn zu Brock geführt hatten, alles andere als optimal waren. Jeremys Qualifikation war eben nicht die Quersumme aus Wissen, Können und Kompetenz. Sie war das klägliche Produkt von Klüngel, Vetternwirtschaft und den auf Golfplätzen gegebenen Versprechen, den Nachwuchs des anderen zu fördern. Seine Noten waren Durchschnitt. Sein Engagement hielt sich in Grenzen. Seine Gefühle für Menschen wie die Frau waren unprofessionell. Und trotzdem machte Brock ihn nicht vor den anderen einen Kopf kürzer. Seine Achtung für den Professor stieg im selben Maß wie die Verachtung für seinen eigenen Vater, der ihm die Chance genommen hatte, etwas anderes zu sein als eine lästige Verpflichtung.
    Brock stand auf. Er nahm das Handtuch, der Bleistift fiel zu Boden. »Ich hatte angerufen, dass ich mich verspäte. Es tut mir leid. Ich hoffe, sie kommt durch.«
    Die Frau hatte aufgehört zu röcheln. Draußen jaulte ein Martinshorn. Die ganze Situation war so unwirklich. Eben noch hatte er Kaffee und Tee serviert, und im nächsten Moment jagte sich die Frau einen Bleistift in den Hals und wäre um ein Haar gestorben. Das Jaulen wurde lauter, und die folgenden Minuten erlebte Jeremy wie unter einer Glasglocke. Als die Sanitäter den leblosen Körper auf eine Trage geschnallt und aus der Praxis gerollt hatten, folgten ihr die beiden Beamten, und Jeremy ging in den Waschraum. Er sah in den Spiegel, und es wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er drauf und dran war, den falschen Beruf zu wählen.

9
    Z wei Tage später sah Jeremy sie wieder.
    Um den Hals trug sie einen steifen Verband. Sie war außergewöhnlich blass, aber sie hatte auch viel Blut verloren. Ihr Allgemeinzustand erlaubte einen kurzen Besuch in der Klinik. Brock hatte ihn darum gebeten. Der Professor, in Gedanken schon auf dem Weg zu einem Forensikerkongress in Chongqing, China, ließ lediglich kurze Genesungswünsche ausrichten und ermahnte Jeremy, das Gespräch keinesfalls auf die Tat zu lenken.
    Und so stand der angehende Psychologe vor dem Bett, in der Hand einen Wildblumenstrauß, und wusste nach einigen Höflichkeitsfloskeln nicht mehr, was er sagen sollte. Charlotte

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