Das Dorf der Mörder
denken, ich bin viel mit dem Taxi unterwegs. Aber ab und zu schon.«
Er sollte gehen. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Aber mit dem Verband und der Kanüle im Arm wirkte sie trotz ihrer kräftigen Statur verletzlich.
»Wen beschützt sie denn?«, fragte er mit höflichem Interesse.
Rubin zog die Schublade des Nachttisches auf und ließ die Kette hineingleiten. Dann wälzte sie sich auf die andere Seite und drehte ihm den Rücken zu.
»Sie ist eine der vierzehn Nothelfer und beschützt Frauen, Mädchen und Nonnen.«
»Sie sind katholisch?«
Keine Antwort.
»Möchten Sie vielleicht mit einem Geistlichen sprechen?«
Über die Schulter warf sie ihm einen müden Blick zu. »Sehe ich so aus?«
»Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wie Sie aussehen sollten. Ich habe nicht viel Erfahrung. Ich bin noch in der Ausbildung.«
In ihren hellblauen Augen schimmerte so etwas wie höfliches Interesse.
»Überfordere ich Sie?«
Ja. Eindeutig. Es beunruhigte ihn, dass sie sein Dilemma so klar erkannte. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Er müsste sie beurteilen.
»Ich bin erst seit einem halben Jahr bei Professor Brock.« Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und rechnete damit, sofort wieder hochgejagt zu werden. »Mit Ihrem Gutachten habe ich nichts zu tun. Das ist allein Sache meines Chefs. Aber ich kann viel lernen.«
»Was denn?«
»Wie man einen Menschen wahrnimmt, zum Beispiel. Wie sie sich verhalten. Welche Antworten sie geben. Welche nicht.«
Vorsicht, dachte er. Ganz dünnes Eis. Weiträumig umfahren. Nichts preisgeben. Sie redet mit mir. Das darf sie nicht. Brock müsste hier sein. Der wüsste, was es zu bedeuten hat. Warum sie auf einmal den Mund aufmacht. Wahrscheinlich will sie mich aushorchen. Gleichzeitig spürte er eine wilde Freude in sich. Sie spricht! Das Monster zeigt menschliche Seiten. Das ist mehr, als Brock bisher erreicht hat. Er hatte die Sitzung gleich mit Fragen nach der Tat begonnen.
»Und was haben Sie bisher über mich gelernt?«
Jeremy lächelte. Er hoffte, dass es sympathisch und vertrauenerweckend aussah.
»Sie sind verunsichert. Das kann ich verstehen. Sie sind in einer Situation, für die Sie keine einschlägigen Erfahrungswerte haben. Jede Geste, jeder Satz kann etwas über Sie verraten, und Sie wissen nicht, ob das zu Ihrem Vorteil oder Nachteil wäre. Ihre Kurzschlusshandlung …« Er musste schlucken, weil vor seinem geistigen Auge die Szene in Brocks Arbeitszimmer auftauchte. Ihr Hals, das Blut, das aus ihrer Halsschlagader gepumpt wurde, die Panik. Etwas stimmte nicht an dieser Erinnerung. Er verlor den Faden und sah sie wieder auf dem Boden liegen, seine Hände um ihren Hals, als ob er sie erwürgen wollte. Das war das Schlimmste: dieser feste Griff, der genauso gut Leben retten wie auslöschen konnte. Und da fiel ihm ein, dass etwas nicht zusammenpasste.
»Woher haben Sie die Kette?«
Rubins Interesse erlosch so schlagartig, wie es gekommen war. Sie schaute aus dem Fenster.
»Sie haben keine getragen.«
Das durfte sie auch nicht. Jetzt fiel es ihm wieder ein: In der Untersuchungshaft war es lediglich erlaubt, Privatkleidung zu tragen. Alles andere wurde in der sogenannten Habe aufbewahrt. Er war sich ziemlich sicher, dass für die vierzehn Nothelfer die gleichen Besuchsregelungen galten wie für jeden anderen auch.
Aber Rubin wollte nicht mehr.
»War jemand bei Ihnen? Das ist wichtig. Wir müssen das wissen. Frau Rubin?«
Sie reagierte auch nicht, als er sich verabschiedete und das Zimmer verließ. Der wachhabende Vollzugsbeamte saß auf einem Stuhl im Gang und las eine Boulevardzeitung. Die Überschrift verhieß nichts Gutes für die Bauern, die schon jetzt über eine anhaltende Dürreperiode klagten. Er sah hoch, als Jeremy vor ihm stehen blieb.
»Alles okay da drinnen?«
Er war Ende fünfzig und wirkte so gemütlich wie ein altes Sofa. Ein Cop, der alten Frauen über die Straße half und Radfahrer wohlwollend ermahnte, nicht bei Rot über die Ampel zu fahren. Jeremy fragte sich, wie dieser Mann bei einem Fluchtversuch reagieren würde. Bestimmt nicht mit einer Verfolgungsjagd über die Krankenhausflure.
»Ja, danke. Sagen Sie, hatte Frau Rubin Besuch?«
Der Mann legte sein zerknautschtes Gesicht in Falten. »Nur die Visite und die Pfleger. Gestern war ein Seelsorger da. Ist ja ein katholisches Krankenhaus.«
Natürlich. Jeremy erinnerte sich an das Kreuz im Eingangsbereich. Das erklärte auch die Kette. Erlaubt war das
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