Das Dorf der Mörder
nicht. Aber wen würde es stören? Vielleicht war es Charlotte Rubin peinlich gewesen, den Besuch eines Priesters zuzugeben. Er sah sich um.
»Ihr Kollege?«, fragte er. »Sollten Sie nicht zu zweit sein? Das ist immerhin die bekannteste Gefangene der Stadt.«
»Auf dem Örtchen«, antwortete der Polizist merklich zurückhaltender. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir passen auf. An uns kommt keiner vorbei.«
Außer Seelsorgern, dachte Jeremy. Er wollte noch fragen, ob der Priester durchsucht worden war, ließ es dann aber bleiben. Nicht sein Job. Er bedankte sich und verließ das Krankenhaus.
Auf dem Weg zu seinem Wagen überschlug er kurz den Zeitunterschied zu China – dort müsste es früher Abend sein – und wählte Brocks Nummer. Wie erwartet, meldete sich lediglich die Mailbox. Er wartete, bis die Ansage vorüber war.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er, schloss die Tür zu seinem Toyota auf und entdeckte ein neues Knöllchen hinter dem Scheibenwischer. Schon wieder. Die ganze Straße voller Schlaglöcher, ein völlig marodes öffentliches Nahverkehrs system, aber Strafzettel abkassieren. Das konnten sie. Was geschah eigentlich mit den Unsummen, die sie von den Autofahrern schröpften? »Ich komme gerade von Charlotte Rubin. Und stellen Sie sich vor …« Wieder schoss dieses Gefühl von Freude in seine Brust. »… sie redet mit mir.«
10
D rei Tage später überließ es Professor Dr. Dr. Gabriel Brock Mieze, seinen Koffer in die Wohnung im Stockwerk über der Praxis zu bringen, was die kleine, stämmige Frau gerne tat. Inzwischen hatte auch Jeremy Saaler gehört, dass der Chef zurückgekommen sein musste. Der junge Mann eilte ihm im Flur entgegen und begrüßte ihn mit einem beinahe euphorischen Lächeln.
Brock hatte Mühe, es nicht zu erwidern. Er mochte den Jungen. Es hatte seine Zeit gedauert, denn zunächst war Jeremys Bewerbung nichts anderes als die Bitte um eine Gefälligkeit gewesen, die abzulehnen er sich fürchtete. Doch dann hatte er den jungen Diplompsychologen kennengelernt. Auch wenn sein Schützling es vielleicht nicht wusste – Jeremy war ein Suchender, der noch nicht begriffen hatte, dass er seine wahre Leidenschaft gefunden hatte. Es musste mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn Saaler zu tun haben. Der eine ein bestimmender Patriarch, der Widerspruch nicht duldete, der andere herangewachsen im Bewusstsein, vorgeebnete Wege zu gehen, und der diese Wege deshalb nicht als die seinen betrachtete.
Brock waren die Zweifler lieber. Die, die sich lange prüften und nicht blenden ließen von akademischen Bildungsgraden und Professorenwürden. Er war froh, dass er ihm und sich diese Chance gegeben hatte. Daran musste er denken, als er Jeremys nur mühsam unterdrückte Freude bemerkte.
Der Anruf hatte ihn auf dem Weg zu einem gemeinsamen Essen mit Kollegen aus Philadelphia, Wien und Sydney er reicht. Erst hatte er nicht begriffen, was sein Mitarbeiter in den Hörer gestammelt hatte.
Sie redet mit mir.
Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und ließ Jeremy den Vortritt. Der Junge vermied es, die Stelle anzusehen, an der Charlotte Rubin fast verblutet wäre. Mieze hatte einen hässlichen Läufer darübergelegt. Während der Sommerferien würde er den Teppich austauschen lassen.
»Setzen Sie sich.«
Er nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz.
»Hatten Sie eine gute Reise?«
»Danke.« Brock strich sich über die Augen. »Der Jetlag ist in diese Richtung mörderisch. Ich werde früh zu Bett gehen.«
Er griff nach den Zeitungen der letzten Tage und überflog kurz die Überschriften. Dabei bemerkte er, wie Jeremy unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte.
»Nun schießen Sie schon los.«
»Ich habe sie im Krankenhaus besucht. Eigentlich wollte ich nur nachfragen, ob wir nächste Woche weitermachen kön nen. Sie hat sehr viele Blutkonserven bekommen, aber das Schlimmste ist überstanden. Wir haben über Wiesenblumen gesprochen. Ich habe ihr welche mitgebracht. Sie erinnerten sie an ihre Kindheit.«
»Interessant.« Brock lächelte nun doch. »An was genau?«
Etwas musste geschehen sein zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Menschen. Der angehende Psychologe und die überführte Mörderin. Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt, sagt der Talmud. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast, sagt Antoine de Saint-Exupéry. Jeremy jedenfalls hatte seine Berührungsängste in dem Moment aufgegeben, in
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