Das Dorf der Mörder
nicht anders zugetragen hatte. Er beschrieb, wie Rubin die junge Frau, eine Streifenpolizistin, schwer verletzt und dann die Flucht ergriffen hatte.
Brock sah seine Vermutung bestätigt. Zunächst dieses kalte, fast unmenschlich präzise Morden. Und dann – ein Schlag, sie floh, versuchte noch nicht einmal, Fingerabdrücke und Opfer verschwinden zu lassen, rannte kopflos davon und wurde an einer Straßenbahnhaltestelle durch Zufall entdeckt.
Diese Polizistin musste Rubin völlig aus dem Takt gebracht haben. Brock suchte sich die Aussage der Frau heraus. Sanela Beara. Kroatin mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Draußen zog ein Gewitter auf. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel zusammen und verschluckten das Sonnenlicht. Die Schwüle war beinahe unerträglich. Brock machte die Schreibtischlampe an, damit er nicht zu seiner Lesebrille greifen musste. Seit er ihre Notwendigkeit schweren Herzens eingesehen hatte, war es zu seiner persönlichen Herausforderung geworden, sie so lange wie möglich nicht zu benutzen.
Bevor er sich noch einmal den wenigen Sätzen widmete, die PM Beara zu Protokoll gegeben hatte, ließ er seine Gedanken zurückwandern in die Jahre, in denen er selbst seine Facharztausbildung gemacht hatte. Ein junger, idealistischer Psychologe, der gemeinsam mit Rechtsanwälten und Psychiatern versucht hatte, die Abschiebung von traumatisierten Bosnienflüchtlingen zu verhindern. Das Schicksal dieser Menschen, die so viel erleiden mussten, hatte ihn in einen Strudel von Verzweiflung und Hilflosigkeit hinabgezogen, aus dem ihn erst die Begegnung mit seiner späteren Frau Mechthild gerettet hatte. Von ihr hatte er gelernt, sein Helfersyndrom in produktive wissenschaftliche Arbeit zu kanalisieren.
Traumatherapie. Ob Sanela Beara und ihre Familie viel verarbeiten mussten? Er ertappte sich dabei, dass er sie gerne gefragt hätte, warum sie diesen Beruf gewählt hatte. Doch dann rief er sich zur Ordnung. Das hatte nichts mit dem Fall zu tun. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, es hätte jedem passieren können.
Wirklich?
Brock hatte lange gebraucht, um auch den Zufall als Motiv zu akzeptieren. Er war immer noch überzeugt, dass es Mechanismen gab, die die Willkür lenkten. Oft waren sie noch nicht einmal dem Täter bewusst. Er las die wenigen Sätze durch, die die Beamtin zu Papier gebracht hatte. Perfektes Deutsch, korrekte Grammatik. Wenn sie das geschrieben hatte, dann war sie gut in der Schule gewesen. Sehr gut sogar. Dann war sie unterfordert in ihrem Job und würde über kurz oder lang unzufrieden sein. Würde es besser machen wollen als die anderen.
Er merkte, dass ihn die Streifenpolizistin mehr interessierte als die geständige und überführte Charlotte Rubin. Konzentration bitte, dachte er. Zurück zu unserer Täterin.
Die Frage war also nicht, warum Rubin ihre Taktik geändert hatte. Sondern, wie viele Taktiken sie eigentlich verwendete und was dies mit ihrer Persönlichkeit zu tun hatte. Brock tappte noch im Dunkeln, aber in seinem Kopf begann bereits eine Theorie Gestalt anzunehmen. Dissoziative Identitätsstörung. Borderline. Vielleicht auch eine schizotype Persönlichkeit, dazu würde die heilige Katharina passen.
Brock klickte erneut mit dem Kugelschreiber herum und begann, sich Notizen zu machen. Fragen, ob die Heilige Kontakt zu R. aufnimmt. Wahnvorstellung? Wenn ja, wann hat das angefangen?
Er strich die Sätze durch. Er war noch nicht so weit, den nächsten Schritt zu gehen.
Er würde Jeremy bitten, diesen Part zu übernehmen.
11
H enny war wieder da.
Nach der Scheidung von Jeremys Eltern hatten sich eine Menge Frauen für Jason Saaler interessiert. Mit Mitte sechzig war es ihm mit der diskreten Hilfe einiger vertrauenswürdiger Ärzte gelungen, sein Äußeres auf Ende fünfzig zu tunen. Bei genauerer Betrachtung hielt diese Jugendlichkeit nicht lange vor. Die weggelaserten Altersflecken, das straffe Kinn und die silbern gesträhnten Haare machten zwar Eindruck. Dazu die Größe – über eins achtzig, breite Schultern, federnder Gang, all das wirkte auf den ersten Blick überzeugend. Ein Mann, wenn schon nicht mehr in der Mitte des Lebens, dann doch voller Kraft und Selbstbewusstsein und noch lange nicht bereit, am Ende seines Weges auszuruhen.
Doch das Alter ließ sich nicht überlisten. Es schlug zu, wenn der Mensch am schutzlosesten war. Jason Saaler lag mit leicht geöffnetem Mund in seinem Lesesessel und schnarchte. Die Brille saß noch auf seiner
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