Das Dorf der Mörder
Cäsarennase, die Hand auf der Zeitung, von der einige Blätter auf den Boden gefallen waren. Im Schlaf fehlte ihm die Körperspannung, und die geschlossenen Augen konnten nicht einschüchternd blicken, die kräftige Stimme nicht mehr gebieterisch Anordnungen erteilen. In sich zusammengefallen, kleiner, schmaler, war er ein Mann im Spätherbst seines Lebens, der auf Teufel komm raus sein eigenes Sommertheater inszenierte.
Jeremy fragte sich, was eine Frau in Hennys Alter in Jason sah. Er hörte, wie sie in der Küche nebenan hantierte. Sie suchte Weingläser. Seit er sich ihren Namen merken musste, weil sie, anders als die anderen, nicht nach wenigen Wochen ausgetauscht oder ergänzt worden war, ging sie ihm auf die Nerven.
Seine Mutter hatte das Haus nach der Scheidung vor einigen Jahren verlassen. Mit ihr war auch die Erinnerung an eine Kindheit verschwunden, in der der Vater zwar irgendwie präsent war, faktisch aber kaum zugegen. Babette Saaler hatte das getan, was man in Dahlem »ihrem Mann den Rücken freihalten« nannte. Vielleicht bestand die Hauptaufgabe darin, andere Frauen auf ihre Plätze zu verweisen. Jeremy wusste es nicht. Er erinnerte sich nur daran, dass seine Mutter nicht glücklich gewesen war, ihr Umfeld mit einem Wechselspiel von hysterischen Anfällen und depressiver Trauer in Atem hielt und Jeremy seit frühester Kindheit Angst gehabt hatte, sie könnte ihre dramatisch verkündeten Selbstmordabsichten in die Tat umsetzen. Er hoffte, dass der Vertreter für Arztpraxeneinrichtungen, mit dem sie schließlich irgendwo an den Bodensee gezogen war, das mit dem Glück besser hinbekam.
»Chardonnay?«, piepste Henny aus der Küche.
Sein Vater gab einen ärgerlichen Schnarchlaut von sich. Der Rest der Zeitung segelte zur Erde. Jeremy hob ihn auf und legte die Seiten auf den Lesetisch neben dem Kamin.
Jason hatte den Bungalow nach Babettes Auszug renovieren lassen. Die Seidenblumengestecke, die schweren Damastvorhänge, die elfenbeinfarbene Sitzgarnitur – all das war verschwunden und hatte einer strengeren, sachlicheren Atmosphäre Platz gemacht. Der Blick ging nun durch die riesigen Panoramascheiben direkt hinaus in den Garten. Auch dort hatte ein befreundeter Architekt radikale Veränderungen vorgenommen. Das Einzige, was Jeremy noch wiedererkannte, war der Zaun um das Grundstück. Der Rest war nun ein japanischer Ziergarten von mönchischer Strenge.
»Ja, danke.«
Er wollte nicht lange bleiben. Es hatte eine kurze Phase nach der Scheidung seiner Eltern gegeben, in der Jeremy geglaubt hatte, seinen fremden Vater näher kennenzulernen. Sie hatten öfter Tennis zusammen gespielt, sich ein paar Mal zum Essen getroffen. Jeremy hatte sogar begonnen, Golfunterricht zu nehmen. Manchmal dachte er daran, dass ein zweckfreier gemeinsamer Abend vielleicht auch ganz schön gewesen wäre. Denn alles, was Jason Saaler unternahm, hatte einen Sinn. Sport, Kultur und Nahrungsaufnahme wurden stets kombiniert mit »Kontakten«.
Einer dieser Kontakte war Gabriel Brock. Jason hatte seinen Sohn angepriesen wie eine Kiste fleckiger Äpfel. Zumindest hatte Jeremy sich so gefühlt. Brock war eine Kapazität. Eine graue Eminenz. Er fuhr ausschließlich Autos, aus denen er noch ohne fremde Hilfe herauskam. Seine Studenten, vor allem aber die Studentinnen vergötterten ihn, und er war trotzdem seit über dreißig Jahren mit derselben Frau verheiratet. Als der Professor Jeremy gesagt hatte, dass er das Gespräch mit Charlotte Rubin führen durfte, hätte er am liebsten sofort seinen Vater angerufen. Dann hatte er gedacht, dass es besser wäre, es ihm von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Doch er hatte vergessen, dass er seinen Vater noch nicht einmal zuhause mehr als fünf Minuten allein antreffen würde.
Henny hieß eigentlich Henriette. Was sie arbeitete, wusste Jeremy nicht. Jason hatte sie auf einer Vernissage in einer Galerie kennengelernt. Die Verbindung hielt bereits mehrere Monate. Sie war Ende zwanzig, eine hübsche, sportliche Frau mit einem harten Zug um den Mund, in dem Jeremy den Zeitdruck zu erkennen glaubte, unter dem sie stand. Sie musste endlich in einen sicheren Hafen, um dort in gepflegtem Müßiggang die nächsten Jahre mit gerafften Segeln abzuwarten, bis die Scheidung lukrativ genug war.
Sie kam mit zwei Gläsern Wein in den Raum, für den Jeremy seit dem Umbau keinen Namen mehr hatte. Früher war es das Wohnzimmer gewesen. Jetzt eine Art gehobenes Wartezimmer mit Kamin und Blick ins Grüne.
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