Das Dorf der Mörder
dem er tatsächlich Hand anlegen musste. Brock war die Befangenheit des jungen Arztes nicht entgangen, mit der er Charlotte Rubin begegnet war. Aber seit diesem Zwischenfall schien sich etwas verändert zu haben. Er hoffte, dass Jeremy stark genug war, seine Gefühle zu beherrschen und sie nun nicht auf die andere Seite ausschlagen zu lassen.
Sein Gegenüber dachte kurz nach.
»An Sommertage. Und das Wetter. Sie schien glücklich zu sein, als sie daran dachte. Und dann hatte sie eine Halskette im Krankenhaus, die ihr einer der Seelsorger dort gebracht haben muss. Auf dem Anhänger ist die heilige Katharina zu sehen, die Schutzheilige der … ähm …«
Jeremy war es offenbar entfallen. Brock half ihm.
»Der Mädchen, Jungfrauen, Ehefrauen und der Zunge.«
»Der Zunge?«
»Sie wird bei Krankheiten der Zunge angerufen. Was auch immer man darunter verstehen mag.« Brock öffnete die Seitentür seines Sekretärs und ließ die Hängeregistratur herausfahren. »Symbolik, Hermeneutik und Allegorie sind oft Ausdrucksformen, wenn die Sprache allein nicht reicht. Es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen. Dieser Seelsorger muss es sehr gut mit unserer Patientin meinen.«
»Wieso?«
»Die heilige Katharina soll Frau Rubin vielleicht das Reden erleichtern.«
Oder sie daran hindern, dachte Brock. Er suchte einen Bleistift, um sich diesen Gedanken zu notieren, fand aber keinen. Dann fiel ihm ein, dass die Polizei sie mitgenommen hatte. Jeremy reichte ihm einen Kugelschreiber.
»Danke.« Brock griff nach der Akte Rubin, die ganz vorne hing, und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus.
»Ist Frau Rubin noch im Krankenhaus?«
»Nein. Sie wurde gestern in die JVA Lichtenberg zurückverlegt. Herr Staatsanwalt Rütter bittet darum, dass wir rechtzeitig Bescheid sagen, wenn wir mit dem Gutachten in Verzug geraten.«
»Was sagen die Ärzte?«
»Kein Problem. Wir könnten nächste Woche fortfahren.«
»Gut.« Brock betätigte mehrmals den Druckknopf des Kugelschreibers. Jeremy betrachtete das als Aufforderung zum Gehen und stand auf.
»Herr Saaler …«
»Ja?«
»Ihre Abneigung gegen Frau Rubin hat sich mittlerweile relativiert?«
»Meine Abneigung?« Jeremy sah aus, als hätte man ihn bei etwas Unredlichem ertappt. »Sie ist krank, egal ob sie zurechnungsfähig ist oder nicht. Wer so ein Verbrechen plant und ausführt, ist ziemlich weit von allem entfernt, was ich als normal bezeichnen würde. Aber ich habe keine Abneigung. Sie ist eine Patientin.«
»Das wissen wir noch nicht. Erst wenn wir uns ein abschließendes Urteil gebildet haben, und davon sind wir noch weit entfernt. Trotzdem war ich erstaunt und erfreut, dass sie Ihnen gegenüber ihre Zurückhaltung aufgegeben hat. Ich möchte Sie gerne bei der nächsten Sitzung dabeihaben. Können Sie das einrichten?«
»Ja. Selbstverständlich.«
»Wann wäre das? Vorausgesetzt, die Ärzte geben grünes Licht.«
»Nächste Woche Donnerstag. Mieze … also Frau Katz hat das schon in den Terminkalender eingetragen, allerdings mit Fragezeichen.«
»Gut«, murmelte Brock und beugte sich über die Akte.
Jeremy ging. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Brock wieder hoch. Dann griff er zum Telefon und rief seine Sprechstundenhilfe an.
»Finden Sie bitte heraus, ob Seelsorger des katholischen Krankenhauses uneingeschränkt Zugang zu Untersuchungshäftlingen in der Klinik haben.«
Nachdem Mieze ihm die schnellstmögliche Erledigung des Auftrages zugesichert hatte, nahm er sich seine Aufzeichnungen vor. Er war so weit davon entfernt, Charlotte Rubin zu verstehen. Er war erst am Anfang. Drei Tage, mehr Zeit gab es nicht, um das komplexe Wesen eines Menschen zu erfassen und ein Urteil darüber zu fällen.
Er versuchte es mit dem einfachsten Schema: der Tat. Sie war in logischen, aufeinanderfolgenden Schritten begangen worden. Strukturiert und, wenn auch unter Zeitdruck, geplant. Rubin hatte auf gar keinen Fall psychotisch gehandelt. Wirr wurde es erst, als diese Polizistin dazugekommen war und, wie ihm schien, auf eigene Faust ermittelt hatte. Damit hatte Rubin unter Stress gestanden und einen Fehler nach dem anderen gemacht. Er blätterte durch die Papiere und suchte nach dem Bericht der Mordkommission.
Kriminalhauptkommissar Gehring, Lutz Gehring. Er musste relativ jung sein, anders war sein Ton schwer zu erklären. Autoritär und äußerst gewissenhaft. Alles genau festhalten. Und gar nicht erst Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich so und
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