Das Dorf der Mörder
Abends, wenn die Beleuchtung sanfter war und die Bücherregale besser zur Geltung kamen, erinnerte es an eine moderne Bibliothek, wie sie in den Hochglanzzeitschriften für distinguiertes Wohnen manchmal abgebildet wurden. Die Gläser waren beschlagen. Henny trug einen knappen Bikini unter der halbtransparenten Tunika.
»Jason?« Sie ging zu ihm und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.
Jeremy kam es vor wie eine medizinische Handlung zwischen Krankenschwester und Patient. Er hatte schon seit langem keine tiefe Bindung zu seinem Vater mehr. Doch diese kurze Szene schmerzte ihn.
Jason brummte unwillig. Er öffnete blinzelnd die Augen, erkannte Henny und zog sie mit einer groben Bewegung auf seinen Schoß. Ihr gefiel das. Sie kicherte, als sie etwas Wein verschüttete und ihn darauf hinwies, dass sie nicht alleine waren.
»Das ist ja eine Überraschung!« Sein Vater gab Henny einen Klaps. Sie stand auf und lief barfuß hinaus auf die Terrasse, wo statt der alten Felsensteine nun Teakholz die Wärme eines ausklingenden Hochsommertages speicherte.
Jason stand auf. Das ging nicht mehr ganz mühelos. Jeremy war versucht, ihm beizuspringen, unterließ es dann aber. Sein Vater hätte das in Anwesenheit seiner jungen Geliebten nicht gewollt.
»Schon fast acht«, murmelte er mit einem Blick auf seine Uhr. »Wir gehen gleich essen im Rot-Weiß.« Der Tennisclub, dem Jason, Brock und nun offenbar auch Henny angehörten. »Kommst du mit?«
»Nein danke. Ich habe schon etwas vor.«
Jeremy hatte nichts vor. Aber es widerstrebte ihm, Henny dabeizuhaben.
»Wie läuft’s bei Brock? Gut? Ja?« Sein Vater wartete die Antwort gar nicht ab. Er trank einen Schluck Wein und beobachtete die junge Frau, die es sich gerade auf einer Aluminium-Gartenliege bequem machte.
»Marquardt hat mir erzählt, dass der Prozess für Mitte, Ende September angesetzt ist. Ungewöhnlich für so einen Fall. Was sagt Brock?«
Marquardt war ein bestens vernetzter Staranwalt, der nur zu gerne in die Rolle des Pflichtverteidigers gesprungen war. Der Prozess würde eine Menge Publicity bringen. Jeremy wusste noch nichts von diesem Termin. Er zuckte nur vage mit den Schultern.
»Kommt ihr voran?«
Das war der Moment. Ja, wollte Jeremy sagen. Und ich habe den Durchbruch erreicht. Sie redet mit mir, und Brock nimmt das zum Anlass, mich mehr in das Gutachten zu involvieren. Er traut es mir zu. Er wurde nicht von anderen dazu aufgefordert, sondern hat diesen Entschluss aus freien Stücken gefasst. Es ist etwas, worauf ich stolz bin. Und ich würde das gerne mit dir teilen.
»Sie ist religiös.« Jeremy stellte sich neben seinen Vater. Das Wasserbecken mit den asiatischen Zierkarpfen war eingefasst von kleinen Buchsbaumkugeln. »Und sie erinnert sich an ihre Kindheit. Sie hat erst im Krankenhaus angefangen zu reden. Vorher hat sie einfach nur geschwiegen. Ich war heute bei ihr. Und da erzählte sie mir …«
Er wandte sich zu seinem Vater um. Jason Saaler beobachtete Henny. Sie räkelte sich auf der Liege und zog einen kleinen Schmollmund. Offenbar fühlte sie sich vernachlässigt.
»Schön«, sagte er, ohne den Blick von der jungen Frau zu wenden. »Richte ihm meine Grüße aus.«
»Mach ich.«
Noch im Hinausgehen fragte sich Jeremy, wann es aufhören würde. Dieses beschissene Gefühl, wenn einem der eigene Vater nicht zuhörte.
12
C harlotte Rubin erholte sich in den nächsten Tagen sehr gut, sodass einer Fortführung der Gespräche nichts im Wege stand. Mieze hatte den Termin auf Dienstag, neun Uhr gelegt. Jeremy war schon eine Stunde früher da. Er sammelte alle Bleistifte ein und prüfte die Stifte in Türklinken, die Stabilität der Fensterscheiben und die Gardinenschnur. So ähnlich musste es sein, wenn man eine Wohnung kindersicher machte. Dann las er noch einmal seine Transkription des letzten Protokolls – nicht viel, eine halbe Seite nur, einige kurze Antworten hinsichtlich Personenstand und Lebenslauf. Danach war sie in brütendes Schweigen versunken und hatte offenbar beschlossen, der Welt mit Hilfe eines Bleistifts den Rücken zu kehren.
Jeremy merkte, dass er nervös wurde. Brock hingegen, der kurz vor halb neun eintraf, war die Ruhe selbst und trank erst einmal, wie jeden Morgen, im Stehen seinen Kaffee an Miezes Schreibtisch, auch wenn dieser, wie beim letzten Mal, verwaist war.
»Guten Morgen, Herr Professor.«
Brock hob eine Heftklammer vom Boden auf und legte sie zu den anderen auf den magnetischen Bakelitspender, der neben
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