Das Dorf der Mörder
Miezes Schreibtischunterlage stand. »Guten Morgen, Herr Saaler. Sind Sie die Interviewstruktur noch einmal durchgegangen?«
Sie hatten sich entschieden, bei einem guten Verlauf des Gesprächs die eigentliche Tat Charlotte Rubins erst zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff zu nehmen. Die schwierigste Aufgabe würde es sein, die Frau zum Reden zu bringen. Über Wiesenblumen, Heilige oder was auch immer.
»Ja. Ich habe ihr etwas mitgebracht. Denken Sie, das ist eine gute Idee?«
Jeremy zog einen Rosenkranz aus der Jackentasche. Brock hob die Augenbrauen und ließ ihn sich geben. Nachdenklich ließ er einige der hölzernen Perlen durch die Finger gleiten.
»Wir werden sehen, wie sie darauf reagiert. Ich bin mir nicht sicher, ob der religiöse Aspekt tatsächlich eine so große Rolle spielt.«
Er reichte Jeremy den Rosenkranz zurück. »Übrigens dürfen weder Nonnen noch Priester ohne Besuchserlaubnis zu einer Gefangenen. Das wusste der Sicherheitsbeamte wohl nicht.«
»Sie haben sich erkundigt?«
»Mich interessiert, wer freiwillig Kontakt zu Charlotte Rubin aufnimmt. Bis jetzt hat sich kein Angehöriger gemeldet. Keine Freunde, keine Kollegen. Ihr soziales Umfeld beschränkt sich tatsächlich nur auf ihren Arbeitsplatz.«
Jeremy nickte. »Ihre Eltern sind tot, es gibt nur eine Schwester, die zur Tatzeit auf irgendeinem Kongress war. Weitere Verwandte hat sie keine. Enge Freundschaften, einen Mann, einen Freund oder Verlobten gibt es auch nicht.«
»Wir sollten vielleicht versuchen, mit ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen.«
»Warum? Ist das nicht sehr ungewöhnlich?«
»In so einem Fall nicht. Mich interessiert, ob es schon früher Suizidversuche gegeben hat.«
»Mit früher meinen Sie vor dem Mord im Tierpark?«
Der Professor nickte.
»Erweiterter Suizid?«, hakte Jeremy nach.
»Nein. Die Tat im Tierpark und Rubins Selbstmordversuch liegen zeitlich zu weit auseinander. Aber wenn wir mehr über sie erfahren wollen und sie uns nicht weiterhilft, vielleicht kann es dann ein naher Angehöriger.«
»In den Unterlagen steht, dass Rubins Schwester die Aussage verweigert hat. Sie ist bis heute nicht gekommen, um ihre einzige Angehörige zu sehen, geschweige denn, um ihr nahe zu sein.«
»Versuchen Sie, mit der Frau Kontakt aufzunehmen«, sagte der Professor.
Der melodische Glockenton der Türklingel riss sie aus der Unterhaltung.
»Sind Sie bereit, Herr Saaler?«
Jeremy nickte. Seine Handflächen waren schweißnass.
Und dann machte Charlotte Rubin es ihm so einfach. Jeremy konnte sein Glück kaum fassen. Sie war immer noch scheu, wortkarg und zurückhaltend. Aber sie gab bereitwillig Auskunft zu allen seinen Fragen.
»Wie lange leben Sie schon in Berlin?«
»Zwanzig Jahre?« Sie sah ihn an, als ob sie von ihm eine Bestätigung erwarten würde. »Nein, weniger. Neunzehn. Ich bin auf dem Land groß geworden. Ich wollte immer was mit Tieren machen.«
»Wieso sind Sie dann ausgerechnet nach Berlin?«
Keine einfache Frage. Sie knetete die Hände, sah zu Boden. Suchte nach etwas, mit dem ein Entschluss, ein Lebensweg erklärt werden konnte.
»Stadtluft?«
Wieder ließ sie die Antwort wie eine Frage klingen. Jeremy lächelte und nickte. Er achtete darauf, dass der Recorder lief und einen messbaren Ausschlag hatte. Auf dem Papier machte er sich Notizen. Warum nach B.? , schrieb er.
»Das war sicher eine große Umgewöhnung, nicht wahr?«
»Ja.«
Fehler. Nie Fragen stellen, die sich mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten ließen.
»Was hat Ihnen am meisten zu schaffen gemacht?«
»Die Stille.«
»Dass es nicht mehr so ruhig war? Sie meinen den Lärm in der Großstadt?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Die Stille im Hochhaus. Deshalb war ich froh, als vor ein paar Jahren die Wohnung im Tierpark frei wurde. Da war es anders. Mitten im Grünen, bei den Tieren. Man hörte wieder was. – Natürlich, das tut man auch in einem Hochhaus. Man hört den Fahrstuhl. Den Verkehr unten auf der Straße. Manchmal Betrunkene, manchmal Musik. Aber sonst nichts. Das hat mir gefehlt.«
»Was genau?«
»Die Kühe. Die Vögel. Der Wind über den Feldern. Die Gewitter. Der Bach. Die Hunde. Nein. Die Hunde nicht.«
»Warum nicht?«
Ihre Hände wurden fahriger, strichen über den billigen Stoff ihres Hosenanzuges. Es musste derselbe sein, den sie beim letzten Mal getragen hatte. Jeremy ertappte sich dabei, dass er auf ihren Kragen schaute. Kein Blut. Kein Fleck. Also doch neue Kleidung. Schwer
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