Das Dorf der Mörder
Gegenleistung?«
»Frau Rubin hat letzte Woche einen Selbstmordversuch unternommen. Ich weiß, dass ich damit gegen die Regeln verstoße, wenn ich Ihnen das sage. Aber Sie sind eine Angehörige. Hat Sie niemand informiert?«
»Nein.« Das höfliche kleine Lächeln war wie aus dem Gesicht gewischt. »Oh mein Gott. Nicht schon wieder.«
»Dann hat sie so etwas schon öfter gemacht?«
Cara zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie ist ein paar Jahre älter als ich. Als Teenager hatte sie wohl eine harte Zeit. Ich habe das nicht so mitbekommen, ich war ja noch ein Kind. Aber sie hat es wohl mal mit Schlaftabletten versucht. Und einmal, wann war das? Ich weiß es nicht mehr. Es war eine unglaubliche Aufregung. Ein Nachbar brachte sie nach Hause, völlig aufgelöst. Sie hätte wohl versucht, sich vor sein Auto zu werfen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie es besonders ernst meinte. Ein paar Tage später lachte sie schon wieder und tat so, als ob nichts passiert wäre. Wo hat sie es versucht? Im Gefängnis?«
»In unserer Praxis.«
Er wollte zu einer Erklärung oder Entschuldigung ansetzen, aber Cara achtete gar nicht darauf. Für sie schien das Elend ihrer Schwester bedeutungslos zu sein. Es war irritierend, denn sie machte sonst den Eindruck einer absolut normalen, schlagfertigen, intelligenten Frau.
Sie deutete auf ihr T-Shirt. »Ich würde mich jetzt wahnsinnig gerne duschen und umziehen. Und um fünf habe ich noch die Kleintiersprechstunde. Erfahrungsgemäß plaudern da nicht die Sittiche und Katzen, sondern ihre mehrheitlich älteren, alleinstehenden Besitzerinnen. Ich kann Ihnen nicht helfen. Es tut mir wirklich leid, was mit Charlie passiert ist. Aber wir stehen uns so nah wie Sie und ich. Ich werde sie besuchen, sobald ich kann. Ich muss jetzt leider los.«
Jeremy wusste nicht, ob sie wirklich so herzlos war, wie sie tat, oder ob sie ihre Sorge nur gekonnt verbarg. Sehr gekonnt, setzte er hinzu, als er sah, wie sie sich hinters Lenkrad setzte, die Sonnenblende herunterklappte und ihr Gesicht mit einem unwilligen Kopfschütteln musterte. Sie ist ihre Schwester, dachte er. Der einzige Mensch, der ihr nahesteht. Das kann nicht alles spurlos an ihr vorübergehen.
»Dann werde ich mir jetzt einen Sittich zulegen.«
Sie sah ratlos zu ihm hoch.
»Vielleicht reden Sie dann mit mir?«
»Ersparen Sie es sich und dem armen Tier.«
»Wann ist die Sprechstunde zu Ende?«
»Ich sagte Ihnen doch schon …«
Das Auto roch nach Pferd, Heu, Gülle und Blut. Und nach etwas Frischem, Süßem, das aus ihren verschwitzten Haaren kommen musste. Erstaunlich, weil sie eben noch in einem Stall durch Blut gewatet war.
»Ich warte auf Sie. Wo?«
Cara seufzte und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
»Sie lassen wohl nie locker?«
Er stützte sich mit den Händen auf dem Autodach ab und wartete darauf, dass sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Doch sie tat es nicht. Sie streckte zwar den Arm nach dem Griff aus. Aber sie hielt inne.
»Kennen Sie Wörlitz?«
»Nur dem Namen nach.«
»Um acht an den Gondeln im Park.«
Er klopfte leicht aufs Dach und grinste. »Um acht.«
An den Gondeln. Hätte Cara Spornitz nicht eine Schwester, die einen Menschen ermordet hatte, könnte das beinahe ein Date werden.
15
D ie Gondeln waren breite Ruderboote, die man sich ausleihen konnte, um damit die Schönheiten des Wörlitzer Parks vom Wasser aus zu bewundern. Jeremy hatte den Rest des Nachmittags damit verbracht, bis zum Venustempel zu wandern, was er nun, je näher seine Verabredung rückte, bitter bereute.
Sein Hemd war schweißgetränkt, seine Schuhe staubig. Kurz vor sechs verließ er die Gartenanlagen und entdeckte am Marktplatz ein kleines Landhotel. Die Sehnsucht nach einer Dusche war so übermächtig, dass er hineinging und ein Zimmer nahm. Der Preis überraschte ihn angenehm, auch ein Blick ins Restaurant und die Speisekarte übertraf seine Erwartungen. Der Wörlitzer Park war UNESCO -Weltkulturerbe, er zog ein internationales Publikum an, das Ansprüche stellte, denen man hier gerecht werden wollte. Sogar die Beschaffung eines frischen Hemdes war kein Problem.
Eine Stunde später saß er, geduscht, rasiert, mit ausgebürstetem Anzug und gewienerten Schuhen, unter den Bäumen des kleinen Marktplatzes und ließ sich eisgekühltes Mineralwasser servieren. Radfahrer und Wanderer kamen vorbei, Paare kehrten ein, das Lokal füllte sich. Als am Nebentisch das Essen serviert wurde und der Duft von Rehkeule und
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