Das Dorf der Mörder
dachte Jeremy. Ich weiß es. Er lässt keine Gelegenheit aus, es mir unter die Nase zu reiben.
»Also verscherzen Sie sich diese Chance nicht. Wenn meine Warnung in Ihren Ohren anmaßend klingt, fragen Sie Mieze, wie viele Bewerbungen hier jeden Monat eingehen. Ich habe Sie genommen, weil ich bis jetzt der Überzeugung bin, dass Sie in Ihrem Beruf Herausragendes leisten werden. Nicht, um Ihrem Vater einen Gefallen zu tun, falls Sie mir das unterschwellig vorwerfen. Sie sind nicht wegen, sondern trotz seiner Vermittlung hier.«
»Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Ich muss Sie bitten, Ihre privaten Interessen so lange hintenanzustellen, bis ich das Gutachten abgeschlossen habe. Und Sie wären klug, wenn Sie darüber hinaus das Ende des Prozesses abwarten würden. Akzeptieren Sie das, oder verlassen Sie uns.«
»Ich akzeptiere das.«
»Gut. Dann sagen Sie der jungen Dame mal Adieu.«
»Wollten Sie nicht noch mit ihr reden?«
»Unbedingt.« Brock ging in den Flur zu seinem Arbeitszimmer. »Rufen Sie Mieze an, und sagen Sie ihr, dass Rubin gegangen ist. Und dann soll sie einen Termin mit Frau Spornitz machen. Zeitnah. Morgen früh wäre mir am liebsten. Bleibt sie in der Stadt?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Jeremy verblüfft. »Aber ich kann sie danach fragen.«
Jeremy eilte voraus und hielt dem Professor die Tür zu dessen Büro auf. Der ignorierte die devote Geste und blieb gedankenverloren stehen.
»Werden Sie die Sache im Griff haben?«
»Ja. Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Natürlich.« Der Professor ging zu seinem Schreibtisch und holte den Recorder hervor. Er schien es nicht erwarten zu können, sich die Aufnahme anzuhören.
»Hat diese Familienzusammenführung jetzt irgendetwas gebracht?«
»Eine gute Frage«, sagte Brock. Er sah beinahe vergnügt aus und spielte an den Knöpfen des kleinen digitalen Recorders herum. »Es war sehr aufschlussreich. So viel gelogen wie in diesen drei Minuten wurde selten.«
»Ah ja?«
Der Professor steckte das Gerät ein und suchte seine Bleistifte. Als ihm einfiel, dass Mieze noch keine neuen besorgt hatte, holte er einen Kugelschreiber aus der Schublade. »Ich werde mich jetzt langsam an das Verfassen des Gutachtens machen.«
»Und?«, fragte Jeremy schnell. »Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«
»Charlotte Rubin ist so normal wie Sie und ich.«
19
J eremy fand Cara auf der Bank einer Bushaltestelle keine zwanzig Meter von der Praxis entfernt. Sie hatte Charlies Blut auf der Bluse und rieb nervös an dem Fleck herum. Als sie den jungen Psychiater kommen sah, beugte sie sich vornüber und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Ich habs’ vermasselt«, sagte sie. »Ich habs’ so was von vermasselt.«
Jeremy setzte sich neben sie. »Das konnte keiner ahnen.«
»Doch!« Wütend starrte sie ihn an. »Ich! Ich hätte wissen müssen, wie Charlie reagiert. Ihr wird vorgeworfen, diesen wahnsinnigen Mord begangen zu haben, sie sitzt wochenlang im Knast, und dann tauche ich auf und glaube, alles wird gut. Nichts wird gut! Es ist der Horror!«
»Ich hätte dir das niemals sagen dürfen. Brock hat mich beinahe gefeuert.«
»Oh, da fehlt mir doch das rechte Mitleid. Ich habe niemanden, der mich feuern kann. Wäre manchmal gar nicht schlecht. Cara Spornitz, du bist gefeuert. Die meisten reden ja nur drum herum. Sollen sie doch ehrlich sein. Als Schwester – gefeuert. Als Ehefrau – gefeuert. Als …« Sie senkte wieder den Kopf. »One-Night-Stand – gefeuert.«
»Das bist du nicht! Und das weißt du auch. Wir waren beide überfordert. Ich bin bei dir mit der Tür ins Haus gefallen, und die Ereignisse haben uns überrollt.«
»So kann man es auch ausdrücken.« Sie sah zur Seite. »Es tut mir leid, was ich neulich zu dir gesagt habe. Ehrlich. Das kam alles so plötzlich. Erst der Schock mit Charlie und dann der zweite mit …«
»… mir?«, lächelte er. »Ein Schock?«
»Na ja, es verirren sich nicht oft gutaussehende Akademiker zu uns aufs Land.«
Jeremy merkte, welche Wirkung diese Worte auf ihn hatten. So überraschend ihre Stimmungsschwankungen auch waren, letztlich blieb wohl doch so etwas wie Sympathie übrig. Er hätte ihr das Kompliment gerne zurückgegeben, aber das hieße, mit dem Feuer zu spielen, statt es langsam ausglühen zu lassen. Ihm klang noch die mahnende Stimme des Professors im Ohr. Auf der anderen Seite, im ersten Stock des Altbaus schienen sich die Gardinen in Brocks Arbeitszimmer zu bewegen. Wurden sie beobachtet?
Sie
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