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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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sein! dachte Dalziel erschrocken. Er war zwar nie groß gewesen, aber doch sicher größer als jetzt!
    Er machte ein paar Schritte auf das Sonnenlicht am Ende der Gasse zu, und der Mann wich langsam vor ihm zurück. Nun wurde der Grund für die geringe Körpergröße sichtbar. Telford ging gebeugt und stützte sich schwer auf einen dicken Gehstock aus Eschenholz. Sein dunkelbrauner Anzug, den er trotz der Hitze trug, mochte einst gepaßt haben, doch jetzt hing er an ihm wie ein Küchenhandtuch an einem Zapfhahn.
    Die Gasse führte auf einen kopfsteingepflasterten Innenhof, auf dem die Beulah-Kapelle stand. Es war ein imposantes Gebäude aus dunkelrotem Backstein, das an diesem Ort recht unpassend und deutlich überproportioniert wirkte. Ein schwaches Summen wie aus einem Bienenstock drang aus dem Inneren. Auf dem Hof standen eine Werkbank, einige Holzböcke mit langen Holzlatten und Plastikeimer voller Werkzeug.
    Telford war im Schatten stehengeblieben. Trotz des schlecht sitzenden Anzugs machte er einen gepflegten Eindruck. Er war frisch rasiert und roch sauber nach Seife und Sägemehl. Das war immerhin ein wenig beruhigend, obwohl Dalziel schon zu viele Menschen kennengelernt hatte, bei denen Sauberkeit eine gewisse Geistesschwäche nicht ausschloß. Und sein Gefühl sagte ihm, daß Telford nicht mehr ganz bei Trost war.
    »Wie geht’s Ihnen denn, Mr. Telford?«
    »Geht so. Obwohl es ganz schön hart war.«
    »Tja, das glaub ich Ihnen«, sagte Dalziel.
    »Na ja, aber mit ’n bißchen Glück fangen Sie den Kerl diesmal, und dann hat die Sache ein Ende.«
    Vermutlich war es dieser ständig nüchterne Tonfall, der ihn an diesem Mann so irritierte. Wenn man von der vorzeitigen Alterung einmal absah, war es sogar der einzig irritierende Punkt. Warum also spürte Dalziel dieses nervöse Kitzeln in seiner Gegenwart? Er entschied sich für einen unauffälligen psychologischen Test.
    »Tut mir leid, was ich von Ihrer Frau gehört hab«, sagte er. »Muß ein schöner Schock gewesen sein.«
    Telford sah ihn an und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
    »Kein so großer Schock, wie unser George ihn erleben wird, wenn er sieht, was sie einer Zahnpastatube antut.«
    Dalziel lächelte anerkennend. Wenn schon untergehen, dann mit fliegenden Fahnen. Das konnte man von einem bodenständigen Yorkie erwarten.
    »Dann überlassen Sie den Sängern also Ihre Kapelle?«
    »Ja. Warum nicht? Um die Wahrheit zu sagen, Mr. Dalziel, ich verbringe nicht grad viel Zeit da drin. Und Mr. Wulfstan ist früher immer ein guter Kunde gewesen. Wenn an Heck was getan werden mußte, ließ er das von Leuten am Ort verrichten. Holte nicht so’n Lackmeier aus der Stadt, wie viele andere von den Zugezogenen. Er wird auch froh sein.«
    »Froh darüber, daß er sein Konzert aufführen kann? Ja, das glaub ich auch.«
    »Nein. Froh, daß Sie die Sache bald zum Abschluß bringen. Er wird sein kleines Mädchen ebenso gern wiedersehn wollen wie ich.«
    »Sein kleines Mädchen?« wiederholte Dalziel. »O ja, allerdings, allerdings.«
    Er dachte,
die Überreste.
Er brauchte keinen Trauerberater, der ihm sagte, wie wichtig es für den Seelenfrieden der Eltern war, einem richtigen Begräbnis beizuwohnen, richtig Abschied zu nehmen, egal, nach welcher Zeit.
    Doch Telfords nächste Worte bestätigten ihm seine erste Diagnose.
    »Die Sonne ist allerdings ein echtes Übel. Sie müssen aufpassen deswegen, wenn Sie sie finden. Könnte ihnen die Augen blenden nach all den Jahren in der Dunkelheit. Am besten, Sie warten bis zur Nacht, bevor Sie sie rausholen.«
    »Sie rausholen? Wo rausholen, Mr. Telford?«
    »Na, aus der Höhle im Neb, wo er sie die ganzen Jahre gefangenhält. Tja, in der Nacht wär’s wohl am besten. Und dann müssen sie sich allmählich wieder ans Licht gewöhnen.«
    Oh, Scheiße, dachte Dalziel. Der arme Hund hatte nicht von Überresten gesprochen, sondern von Überleben, von Auferstehung. Er war überzeugt, sein vermißtes Mädchen würde blinzelnd aus irgendeiner Höhle kriechen, in der Benny sie all die Jahre gefangengehalten hatte. Ob er wohl dachte, daß sie jetzt fünfzehn Jahre älter oder durch irgendeinen magischen Zauber nicht mehr gealtert war? Dalziel wollte es gar nicht wissen. Das seltenste aller Ereignisse war eingetreten: Dalziel sah sich einem Problem gegenüber, dem er nicht gewachsen war. Er erinnerte sich an Telfords Frau. Sie hatte ihre Küchenschürze zusammengeknüllt und sich in den Mund geschoben, als sie die Nachricht

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