Das Dorf in der Marsch
können nur einseitig in die Ferne sehen.«
»Sie müssen sich nur der Mühe unterziehen und den Deich erklimmen. Dann haben Sie wirklich den Ãberblick«, erwiderte Christoph.
GroÃe Jäger hatte sich vor ein Bild gestellt. Sein Finger schwebte wenige Zentimeter über der Leinwand.
»Bilder sollen nach dem Verständnis der modernen Kunst nicht mehr gegenständlich sein, sondern zum Denken anregen. Während die alten Meister es noch verstanden, der Mona Lisa ein unvergleichliches Lächeln ins Gesicht zu zaubern, flieÃen heute Farbkompositionen zusammen und geben Raum für Interpretationen. Was will der Künstler mit diesem Werk sagen? In welcher Stimmungslage war er, als ihm seine Gefühle die Hand führten? Gefühle oder Gedanken? Ist das nicht ein Widerspruch? Nein!« Es klang entschieden. »In diesem Bild sehe ich Gefühle. Emotionen pur.«
Atemlose Stille herrschte im Raum. Die beiden anderen waren näher getreten. Sie lauschten den Ausführungen des Oberkommissars.
»In diesem Werk erkenne ich, wie aufgebracht Sie waren. Wenn man genau hinsieht, erkennt man die Windungen Ihrer Seele. Mein Gott. Was müssen Sie durchgemacht haben.«
Gaultier sah ihn überrascht an.
»Habe ich Sie vorhin unterschätzt? Sie haben einen richtigen Blick für die Kunst. Sie können in Bildern lesen. Ein Naturtalent.«
»Sie müssen Alpträume gehabt haben, Sie konnten nächtelang nicht schlafen.« GroÃe Jäger vollführte eine Kreisbewegung mit dem Arm. »Rot wie das Feuer in der Hölle. Rot wie Blut. Und wenn man genau hinsieht, erkennt man viele kleine Fragmente. Das groÃe Ganze hat sich aufgelöst.«
»Ich kann Ihnen nicht mehr folgen«, erklärte Gaultier plötzlich. Er hatte den Mund leicht geöffnet und sah ratlos aus.
GroÃe Jäger drehte sich zum Maler um. »Ihr Werk ist wie eine Landkarte des Lebens. Es versinnbildlicht die Vergänglichkeit. Was eben noch ein blühendes Leben war, wird durch die Messer des rotierenden Schneidwerks atomisiert. Was treibt dieses zerstückelnde Messer an? Hass? Eitelkeit? Schmach? Oder andere Triebe?«
»Sie werden mir unheimlich«, gestand Gaultier zögerlich.
GroÃe Jäger fixierte den Maler für eine Weile. Er starrte ihm in die Augen wie die Schlange auf das Kaninchen. Dann drehte sich der Oberkommissar um, verschränkte die Hände auf dem Rücken und stolzierte durch das Atelier.
»Hat das Bild zum Trocknen im Garten gestanden?« GroÃe Jäger zeigte auf ein anderes Gemälde, das nur aus kräftigen Farben bestand.
»Nein. Wieso?«
»Das sieht aus, als wäre während des Trocknens im Freien ein kräftiger Eiderstedter Landregen niedergegangen und hätte alle Farben verwischt.«
»Sie Schelm, Sie. Blicken Sie einmal in Ihre Seele. Genauso sieht es dort aus. Nichts ist gerade, alles verschwommen. Die Dinge gehen ineinander über, vermischen sich. Klare Konturen kommen da nicht vor.«
»Hat es etwas mit der Chaostheorie zu tun?«, fragte GroÃe Jäger und sah angestrengt auf das Bild. »Ein Mathematiker könnte das erklären.« Er sah Christoph an. »Wie heiÃt noch gleich dein Freund, der Mathematikprofessor von der Hochschule?«
»Professor Michaelis.«
»Kann der das erklären? Ich bin nur ein kleiner Oberkommissar aus der nordfriesischen Provinz und kann nicht bis drei zählen.«
»Man muss in sich gehen«, versuchte Gaultier zu erklären.
GroÃe Jäger grinste. »Ich gehe lieber in andere.«
»In Garding?«, fragte Christoph.
»Gibt es dort eine Kunstszene? Von der habe ich noch nie gehört«, fuhr Gaultier dazwischen.
»Keine Kunstszene, aber eine sympathische Ãrztin«, erwiderte Christoph.
»Und die sammelt Kunst?«
»Nur sehr ausgefallene Stücke«, schloss Christoph den kleinen Ausflug ab, ohne dass der Maler die Zusammenhänge verstand. »Mit welchem Galeristen arbeiten Sie zusammen?«
»Haben Sie noch nie meine Bilder gesehen? Nicht von meinen Ausstellungen gehört?«
»Bedauerlicherweise nicht.«
»Dann besuchen Sie die Galerie Stiefel in der Husumer Neustadt. Maximilian Stiefel. Ein sehr feinsinniger Mensch«, schob er leise hinterher.
»Wir müssen noch einen Blick in Ihren Ausweis werfen«, sagte Christoph.
»Sie wissen doch, wer ich bin. Ich wohne hier. Mein Name steht an
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