Das Dorf in der Marsch
schrecklich konservativ man hier ist. Dafür hat niemand einen Sinn.«
Sie waren weitergegangen und standen jetzt im Atelier. Der Raum befand sich auf der Rückseite, und bodentiefe Fenster gaben den Blick in einen verwilderten Garten frei. Das Atelier war mit Linoleum ausgelegt. Ãberall waren Farbkleckse auf dem Boden. An den Wänden hingen Bilder oder standen dort. Manche waren halb fertig, anderen war für den Laien der Fertigstellungsgrad nicht anzusehen. Drei Staffeleien standen im Raum.
GroÃe Jäger legte den Kopf schief und besah sich ein angefangenes Bild von links, dann von rechts. Er hielt sich zunächst das eine Auge zu, dann das andere. SchlieÃlich kniff er die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen.
»Ich kann nichts erkennen.«
»Dazu muss man nicht nur die Inspiration, sondern auch den Blick haben.« Gaultier klopfte sich gegen die Brust. Dann zeigte er auf das Bild. »Es ist ersichtlich, dass ich nicht umsonst an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studiert habe. Die verfügt über ein ausgezeichnetes Renommee. Viele möchten hin. Wenige schaffen es. Ich war da.«
»Kann man von der Kunst leben?«
»Mir wird es wie Gauguin ergehen. Dessen Bilder sind auch erst nach seinem Tod so unermesslich im Preis gestiegen.«
»Sehnen Sie sich nicht danach«, sagte Christoph. »Wir sind aus einem solch traurigen Anlass hier. Es geht um das ungewisse Schicksal eines Menschen.«
Gaultier nickt ernst. »Witte, der Elektriker.«
»Woher wissen Sie das?«
Der Maler zeigte auf einen achtlos abgelegten Stapel von Briefen und Werbung. »Der Postbote war hier. Die sind hier mit den Informationen schneller als jedes Telegramm.«
»Das sollte man nicht abwerten«, erklärte Christoph. »Ein guter Zusteller übt auch eine wichtige soziale Funktion aus. Er bekommt vieles mit. Hier bleibt niemand unbemerkt wochenlang in seiner Wohnung liegen, weil es keinem auffällt. Das sind schaurige Geschichten aus der GroÃstadt. Auch wenn man es nicht mag, aber die mangelnde Anonymität hat auch ihr Gutes.«
»Ich hatte mein Atelier in Pöseldorf. Das ist ein ganz anderes Leben dort. Aber hier?«, widersprach Gaultier.
»Sie hätten doch in dem noblen Stadtteil in Alsternähe bleiben können«, sagte Christoph.
»Es gibt hier einen unschätzbaren Vorteil gegenüber dem urbanen Leben in Hamburg. Das ist das Licht. Aber dafür haben Laien kein Feeling .« Sein Blick schweifte träumerisch in die Ferne. »Hamburg«, sagte er gedehnt, als würde er sich eine auserlesene Delikatesse auf der Zunge zergehen lassen. »Das ist Leben. Da gibt es eine Szene.«
»Sind Sie ein Bonvivant?«, fragte GroÃe Jäger.
Gaultier lachte schrill auf und klopfte sich auf die Oberschenkel. »Herrlich. So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt.« Er legte den Kopf schief. »Wenn ich das recht überlege ⦠Warum nicht? Verzagte Leute laufen genug in der Welt herum. Glauben Sie an das ewige Leben, daran, dass es nach dem Tod weitergeht? Ich nicht. Darum wäre es doch dumm, wenn man nicht im Diesseits das mitnehmen würde, was einem geboten wird.«
»Sie lassen nichts anbrennen.« Es war keine Frage. Christoph stellte es fest.
»Die Leute hier sind sehr ⦠äh.« Gaultier suchte nach geeigneten Worten. »Bodenständig«, fiel ihm schlieÃlich ein. »Für die sind wir, die hier nicht geboren und aufgewachsen sind, Fremde.«
Diese Formulierung hatten sie schon einmal gehört.
»Wenn man auf die Menschen zugeht, sind sie aufgeschlossen und offen«, antwortete Christoph. »Liegt es nicht auch an Ihnen?«
»Nein«, wies Gaultier diese Unterstellung von sich. »Die können mit Intellektuellen nicht umgehen. Die Leute sind ein wenig ⦠Wie soll ich sagen? Tumb.«
»Sie sind sehr von sich überzeugt«, mischte sich GroÃe Jäger ein.
Gaultier schwenkte den Arm, als würde er die Welt umfassen wollen. »Sie müssen eine besondere Begabung haben, um all das hier zu schaffen. Das übersteigt den Horizont der Leute hinterm Deich. Die sind einfachen Geistes.«
GroÃe Jäger trat an die Bilder heran. Er näherte sich ihnen, machte einen halben Schritt zurück, wiegte den Kopf, stützte das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger ab und kehrte dann zu seinem Platz zurück.
»Ich reihe mich in die
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