Das Dornenhaus
passiert ist.«
Aber Kate war verzweifelt. Sie hatte einen Vater verloren, den sie nie gekannt hatte, und jetzt war ihr der Mann, den sie als Vater geliebt hatte, grausam genommen worden. Sie rannte in den Rosengarten und warf sich schluchzend ins Gras. Hock Lee fand sie dort, hob sie auf und schloss sie fest in die Arme. Als ihr Schluchzen nachließ, setzten sie sich schweigend und betrachteten die herabhängenden Köpfe der Rosen.
Schließlich sagte Hock Lee leise: »Es gibt einen alten chinesischen Glauben, der besagt, dass der Geist im Tod zu seinem wahren Heim zurückkehrt. Ich glaube, Harold ist hier, an diesem Ort, den er liebte, zusammen mit denen, die er liebte. Er wird dir immer nahe sein, Kate.«
Sie fand ein wenig Trost in diesen Worten und nickte langsam. »Ja, das glaube ich auch. Er ist nach Hause gekommen. Hierher nach Zanana.«
Kapitel zwölf
Sydney 1960
O dette schwor, dass sie ihren ersten Tag als Volontärin bei der Australischen Zeitungsgesellschaft nie vergessen würde.
E s war der Tag, nach dem sie sich in den letzten Wochen des Packens, Sortierens und Verabschiedens immer gesehnt hatte. Tante Harriet war zum Winken mit an den Nachtzug gekommen, der Odette nach einem Essen im Goldenen Drachen, einem chinesischen Restaurant, nach Süden bringen sollte. Sie half Odette, ihren Koffer im Schlafwagen zu verstauen, und überraschte sie beide mit einer Umarmung zum Abschied und tränenfeuchten Augen.
»Pass gut auf dich auf in der großen Stadt, Odette. Du bist immer noch sehr jung, um allein in der Welt zurechtzukommen.«
»Mir wird schon nichts passieren, Tante Harriet. Das CVJF -Heim ist sauber und ein sicherer Ort, und ich bin davon überzeugt, dass die Leute von der
Gazette
mir helfen werden, eine Wohnung zu finden.«
»Besuch Mrs. Bramble so bald wie möglich. Ich habe ihr geschrieben und von deiner Ankunft erzählt.«
»Danke, Tante Harriet … äh … meinst du nicht, du solltest besser auf dem Bahnsteig warten?«
Odette schob das Abteilfenster herunter und lehnte sich für die letzten Abschiedsworte hinaus.
»Schließ die Abteiltür ab, Odette. Der Zug kommt morgen früh um sieben in Sydney an, also schlaf dich gut aus.«
»Das werde ich. Ich schreibe dir, sobald ich kann.«
»Du könntest auch anrufen. Wenn es wichtig ist, per R-Gespräch.«
»Keine Bange, Tante Harriet.« Zu ihrer Erleichterung blies der Stationsvorsteher in seine Pfeife, der Zug stieß eine zischende Dampfwolke aus und begann sich mit ratternden Rädern in Bewegung zu setzen. Harriet hob die behandschuhte Hand. »Viel Glück, Odette.«
Odette winkte der hoch gewachsenen Dame in dem grauen Kammgarnkostüm, die das Haar zu einer Außenrolle aufgesteckt hatte und Seidenstrümpfe und hochhackige Schuhe zu ihrem Kostüm trug, eine einsame Gestalt auf einem Bahnsteig, die genauso aussah wie damals, als Odette sie zum ersten Mal gesehen hatte.
»Du wirst mir fehlen, Odette.« Aber Harriets letzte Worte gingen im Zischen des Dampfes unter, der den südwärts gehenden Postzug bei seiner Ausfahrt aus dem Bahnhof von Amberville begleitete.
Odette schob das Fenster zu, nahm die Karaffe mit Wasser aus dem Metallhalter über dem Fenster und goss sich ein Glas lauwarmes Wasser ein. Sie hob das Glas dem Fenster entgegen, hinter dem sich in der Dunkelheit die Bewohner der Außenbezirke von Amberville zum Schlafen bereitmachten. Sie prostete ihrem Spiegelbild im Fenster zu. »Auf die große Stadt … und auf mein neues Leben!«
Odette schlief nicht gut, trotz des rhythmischen Ratterns der Räder und des beruhigenden Schaukelns des Waggons. Nervosität und Aufregung ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Eine Minute nach sieben am nächsten Morgen hob sie ihr Gepäck auf den geschäftigen Bahnsteig des Hauptbahnhofs von Sydney, wo mehrere Fern- und Nahverkehrszüge gleichzeitig angekommen waren. Sie sah sich in der gewölbten Bahnhofshalle um und betrachtete kurz die Neonreklame für Penfolds Wein, ein blinkendes Büschel dunkelroter Trauben, aus denen Saft in ein Weinglas tropfte. Als sie das Schild für den Ausgang fand, gönnte sie sich den Luxus einer Taxifahrt zum Christlichen Verein Junger Frauen in der Stadt.
Sie bezog ihr Zimmer im CVJF , entdeckte aber am nächsten Morgen, dass die jungen Frauen nicht so christlich waren, wie es der Ruf der Institution versprach – ihre Geldbörse war aus ihrer Handtasche gestohlen worden. Zuerst empfand sie Panik, dann Wut, als ihr klar wurde, dass ihr Geld weggekommen war.
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