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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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legte die Zeitung beiseite und nahm die Brille ab.
    Gladys blieb bei der Tür stehen, die Arme noch immer um die Pappschachtel geschlungen. »Falls ich es dir nie richtig gesagt habe, du bist sehr gut zu mir gewesen. Als ich Harold verlor, dachte ich, es sei alles zu Ende. Du hast mir den Lebensmut wiedergegeben und mir geholfen weiterzumachen. Du bist mein bester Freund gewesen, Wally.« Eine Träne rann ihr über die Wange.
    »Komm, komm. Was soll das alles?« Wally ging zu ihr und legte ihr unbeholfen den Arm um die Schultern. »Hier, setz dich erst mal, Gladys. Möchtest du eine Tasse Tee? Fühlst du dich nicht gut?«
    »Doch, doch. Ich wollte nur sichergehen, dass du weißt, was ich empfinde. Du bist ein guter Mann, Wally. Du warst nie nur der zweitbeste, weißt du. Unsere Liebe war eben anders, nicht wahr?«
    »Ja, das war sie. Aber das heißt nicht, dass sie schlechter war. Wir haben beide einen Ehepartner und Freund verloren und einander gefunden. Wir haben Glück gehabt. Ich glaube, ich hab dir das auch noch nie richtig gesagt«, seine Stimme wurde etwas undeutlich, »aber ich liebe dich, Gladys. Du bist die Beste.«
    Sie nickte, denn sie wusste, welche Gefühle hinter diesen schlichten Worten lagen.
    »Darum wollte ich auch, dass du über das hier Bescheid weißt.« Sie stellte die Schachtel zwischen sie beide aufs Sofa. »Da drin sind meine Kostbarkeiten. Ich will nicht, dass irgendwas damit passiert, dass sie vielleicht irgendwann einmal weggeworfen werden. Ich möchte, dass du darauf aufpasst, und wenn die Zeit gekommen ist … eines Tages wirst du wissen, wem du sie geben sollst. Vielleicht gelangen sie ja irgendwie zu Alec zurück, damit er erfährt, wie das alles war.«
    »Was ist denn da drin?«, fragte Wally leise.
    »Nichts, was für jemand anderen wichtig oder wertvoll wäre. Mein Tagebuch, das ich geführt habe, seit ich nach Zanana kam. Ein paar Fotos und Briefe, mehr nicht. Aber für mich sind sie wichtig, Wally.« Sie sah ihn mit einem gequälten und sorgenvollen Ausdruck an.
    Wally legte seine Hand auf die ihre. »Ich passe gut darauf auf, keine Bange, Gladys. Mir ist klar, wie viel diese Dinge dir bedeuten.« Er schaute sie an, und sie tauschten einen Blick tiefen Verständnisses aus. Gladys’ Gesicht wurde wieder weich, und ihre traurigen Augen bekamen einen warmen Schimmer.
    Wally richtete sich energisch auf. »Aber nun hör mal, was soll das alles? Du wirst noch lange hier rumwirtschaften und allen auf die Nerven gehen, wenn ich längst nicht mehr bin. Wie wär’s jetzt mit einer Tasse Tee? Ist noch was von dem Kuchen übrig?«
    Die dünne Fassade des Alltags baute sich wieder zwischen ihnen auf, und Gladys griff nach der Schachtel, wischte sich über das Gesicht und schob sich eine graue Strähne hinter das Ohr. »Ich setz den Kessel auf, und ja, es ist noch Kuchen übrig. Ich hab ihn in der Speisekammer versteckt, damit wir später noch was haben. Du hättest ihn sonst ja auf der Stelle verputzt«, schimpfte sie gutmütig, als sie das Zimmer verließ.
    »Du bist eben eine zu gute Köchin«, rief er ihr nach. Aber die Fröhlichkeit klang ein wenig gezwungen. Er hatte das Gefühl, ihm würde das Herz zusammengedrückt, und das Atmen fiel ihm schwer. Tränen traten ihm in die Augen und rannen durch die tiefen Furchen und Falten seines Gesichts. »O Gladys, du wirst mir so fehlen«, flüsterte er.
    Gladys starb eine Woche später friedlich im Schlaf.
     
    Die Dashfords sorgten dafür, dass Gladys in Zanana begraben wurde, wie sie es sich gewünscht hatte. Zwei Jahre später starb Nettie, und nun lag Sid im Krankenhaus.
    Wally wusste, dass er seinen alten Freund nicht mehr aus dem Krankenhaus heimbringen würde. Bald würde er ganz allein sein auf der Welt. Der enge Freundeskreis, Gladys, Sid und Nettie und auch Harold und Wallys erste Frau Enid – alle tot. Er hatte Freunde und Bekannte in Bangalow, aber die Verbindungen zu seiner Jugend waren nun abgebrochen. Als er an die Freundschaften und Bindungen dachte, die über die Jahre entstanden waren, fragte er sich, was wohl aus den Kameraden geworden war, die das Entsetzen des Weltkriegs mit ihm geteilt hatten.
    Er drückte seine Zigarette aus und kehrte an Sids Krankenbett zurück.
    Auch Sid mussten ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sein. »Wenn ich nicht mehr bin, wirst du ganz allein sein«, sagte er. »Was wirst du dann mit dir anfangen, Wally? Sitz bloß nicht rum und warte darauf, dass man dich mit den Füßen voran aus

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