Das Dornenhaus
Rinde. »Hör zu. Hör, wie der Baum für dich singt.«
Gehorsam schloss Odette die Augen und konzentrierte sich. Der Baum schien von vibrierendem Leben erfüllt, von Wärme und Wachstum, und sie bildete sich ein, in dem hohen Stamm ein schwaches Summen zu hören. Dann hörte sie tatsächlich ein leises Lied in einer Sprache, die sie nicht verstand. Sie öffnete die Augen und merkte, dass ihr der Junge das Lied ins Ohr sang. Odette ließ die Arme sinken und trat zurück. »Du machst dich über mich lustig.«
»Nicht im Geringsten. Bäume singen, ich singe auch.« Der Junge sang weiter. Er hatte eine sanfte, melodiöse Stimme.
»Was ist das für eine Sprache? Ich versteh kein Wort.«
»Das ist Romani. Wir sind Zigeuner. Wusstest du das nicht?«
Odette schüttelte den Kopf.
»Du weißt nicht sehr viel, nicht wahr? Hast ja noch nicht mal einen Baum singen hören. Komm mit, komm und lern meine Familie kennen.« Er griff nach ihrer Milchkanne.
»Nein, das geht nicht. Ich muss nach Hause.«
»Sei doch nicht so schüchtern. Wenn du noch nie von Zigeunern gehört hast, dann kannst du auch nicht wissen, was für schlimme und boshafte Menschen wir sind. Komm mit.«
Sie folgte dem Jungen, der mit langen, schwingenden Schritten vor ihr herging und dabei pfiff.
Niemand schien überrascht, Odette zu sehen, alle lächelten und begrüßten sie und bewunderten ihren hübschen Namen. Einige der Frauen berührten entzückt ihre rotgoldenen Locken.
»Ein Glückskind. Du bist von den Geistern berührt!«
Odette warf dem Jungen neben sich einen etwas erschrockenen Blick zu.
»Von freundlichen Geistern, keine Bange«, meinte der Junge grinsend. »Also, du bist Odette, und ich bin Zacharias, und wir alle hier sind eine große Familie.« Mit einer ausholenden Geste deutete er auf die im Kreis um sie herumstehenden Menschen.
»Ihr gehört alle zu einer Familie?«, fragte Odette erstaunt.
Ein alter Mann antwortete ihr: »Kein Mensch gehört einem anderen, mein Kind. Zusammen gehören wir zu einer Familie. Wir sorgen füreinander und teilen alles, was wir haben – Kinder, Pferde, Besitztümer. Alle gehören zur Familie, keiner gehört einem Einzelnen.«
»Das dort sind meine Mutter und mein Vater, und die anderen sind meine Onkel und Tanten und meine Vettern und Cousinen«, sagte Zacharias und machte wieder eine ausholende Geste. Er deutete auf den alten Mann. »Edwin ist unser Stammesführer, eingesetzt von unserer Königin. Sie ist nicht hier«, fügte er hinzu, als er sah, wie Odette den Blick rasch über die Frauen wandern ließ, um herauszufinden, welche die Königin sein mochte.
»Wo lebt ihr?«
»Wir leben im Augenblick, liebes Kind«, erwiderte Edwin. Mit einem Blick hinauf zum Himmel fügte er hinzu: »Wir reisen auf der Straße des Lebens. Wir sind die Kinder Böhmens, die ewigen Wanderer.« Er verstummte, schien noch etwas sagen zu wollen, meinte dann aber nur: »Und du wohnst hier in der Stadt?«
Odette nickte lustlos.
»Es gefällt dir hier nicht?«
Odette schüttelte den Kopf.
Eine der Frauen zuckte die Schultern und breitete die Arme aus. »Dann komm mit uns! Sei frei wie ein Vogel und folge der unendlichen Straße und dem wandernden Fluss.« Sie trug klirrende Armbänder, Ketten, Ringe und Ohrringe. Odette hatte noch nie so viel Schmuck an einer einzigen Person gesehen. Die Frau trug mehrere Röcke übereinander, alle in verschiedenen Farben und aus unterschiedlichem Material. Ein Tuch war um ihren Kopf gebunden, und das Haar hing in zwei dicken Zöpfen, die unten mit einem farbigen Wollfaden zusammengebunden waren, auf ihrem Rücken.
»Ich muss zur Schule gehen«, sagte Odette.
Sie lachten, und Zacharias zog sie an einer ihrer Locken. »Und was bringen sie dir da bei? Wie man glücklich ist? Wie man die Bäume singen hört und den Gesang der Vögel versteht? Wie man das große Abenteuer des Lebens genießt?«
Odette konnte nicht anders, sie musste zurücklächeln.»Schön wär’s … nein, sie bringen uns Lesen, Schreiben, Geschichte und Arithmetik bei. Gehst du nicht in die Schule?«
»Ich gehe in die Schule des Lebens und der Welt.« Wieder begann er zu singen. Einer der Männer holte eine kleine Geige hervor, ein anderer eine Ziehharmonika, und ein Mädchen schlug ein Tamburin, das mit Glöckchen und Bändern geschmückt war.
Eine schöne junge Frau mit einem strahlenden Lächeln und blitzenden Augen schnippte mit den Fingern, stampfte mit den Füßen und begann zu tanzen. Alle schlossen sich
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