Das Dornenhaus
trank ihre Limonade aus und entfloh der Enge des Hauses, ihrer hässlichen Schuluniform und Tante Harriets Fragen, wie ihr Tag verlaufen war. Sie hüpfte, hopste und sprang an den Eisenbahnschienen entlang und genoss ihre Freiheit. Vorsichtig, wie auf einem Drahtseil, balancierte sie auf einer Schiene, lief dann in der Mitte entlang und hüpfte von einer Schwelle zur anderen. Der Zug kam nur zwei Mal am Tag nach Amberville – früh am Morgen in Richtung Norden und um sieben Uhr abends in Richtung Süden. Die Gleise führten an der alten Butterfabrik vorbei, wo die Milch von den örtlichen Farmen zu Butter, Sahne und pasteurisierter Milch verarbeitet wurde, um dann mit dem Zug pünktlich zum Frühstück nach Sydney zu gelangen.
Harriet hatte sich mit der Frau des Fabrikleiters angefreundet und durfte sich jede Woche frische Kostproben abholen. Sie wollte das »nicht ausnutzen«, wie sie es ausdrückte, schickte aber trotzdem Odette alle vierzehn Tage zur Butterfabrik, um sich die Milchkanne mit dicker gelber Sahne füllen zu lassen.
Wenn in der Fabrik nicht zu viel zu tun war, ließ einer der Männer Odette die Metallleiter an der Außenseite der großen Bottiche hinaufklettern und einen Blick in die wirbelnden Milchstrudel werfen. Die Milch hatte einen süßen, köstlichen Geruch, der ihr immer noch anhaftete, wenn die tägliche Milchration geliefert wurde. In den frühen Morgenstunden holte der Milchmann die Milch aus der Fabrik, fuhr mit seinem Pferdewagen zu den einzelnen Häusern und füllte sie in die beim Briefkasten oder auf der Türschwelle bereitstehenden Flaschen oder Kannen.
Odette blieb nicht lange in der Fabrik – der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Kanne fest mit dem Deckel verschlossen, ging sie am Fluss zurück, der an der Fabrik vorbeifloss. Als sie um eine Wegbiegung kam, blieb sie überrascht stehen und drückte die Kanne schützend an ihre Brust.
Unter den Bäumen am Flussufer war ein improvisiertes Lager aufgebaut worden. Aber was für ein Lager! Ein verbeulter Bus, drei alte amerikanische Autos, zwei in allen möglichen Farben bemalte Wohnwagen aus Holz und mehrere Pferde bildeten so etwas wie einen Kreis. Gestalten bewegten sich um ein loderndes Lagerfeuer, und alles wirkte bunt, hell, lärmend und fröhlich. Odette machte einen Schritt zurück, denn sie wollte nicht von diesen sonderbar gekleideten Leuten entdeckt werden, die anders waren als alles, was sie je zuvor gesehen hatte. Aber gleichzeitig war sie fasziniert von der fast zirkusartigen Atmosphäre und der Fremdartigkeit des Ganzen.
Die Frauen trugen lange glitzernde Röcke, Samtjacken und Kopftücher über dem dicken schwarzen Haar. Die Kleidung der Männer war bunt, sie trugen komische Hüte und Tücher um den Hals. Sie alle schienen aus flimmernden Lichtern und blitzendem Gold zu bestehen, und immer wieder tönte Lachen auf. Mehrere Kinder, gekleidet wie die Erwachsenen, rangelten mit bellenden Hunden.
Odette beobachtete das alles ein paar Minuten lang, ganz verzaubert von diesen merkwürdigen Leuten. Fasziniert stand sie im Schatten eines Baumes, als plötzlich eine Stimme aus dem Nichts zu ihr sprach. Sie schrak so sehr zusammen, dass die Sahne unter dem Deckel der Kanne hervorschwappte.
»Du brauchst dich nicht zu verstecken. Wir sind ganz harmlos, weißt du.«
Es war eine sanfte männliche Stimme mit einem leichten Akzent, die sich, so dachte Odette später, wie ein Lachen anhörte.
»Wer ist da? Wo bist du?«
»Schau nach oben, Mädchen, schau nach oben.«
Sie legte den Kopf zurück und sah hinauf in den Baum.
»Hallo.« Ein junger Mann grinste sie an.
»Oh, hallo. Was machst du da oben?«
»Ich mag Bäume. Man hört Musik in den Bäumen.«
»Tatsächlich?«
Er schwang sich mit einem geschmeidigen Sprung vom Baum und landete vor den Füßen von Odette, die ihn schweigend ansah. Er war nur ein paar Jahre älter als Odette, ein großer schlanker Junge mit einem Schopf langer schwarzer Locken, dunkelbraunen Augen und erstaunlich weißen Zähnen. Seine Haut war gebräunt, und er trug die gleiche farbenprächtige Kleidung wie die Leute beim Feuer. Mit Verwunderung bemerkte sie einen kleinen goldenen Ring in seinem Ohr.
»Möchtest du die Musik hören?«
Odette blinzelte. »Welche Musik?«
»Die hier. Gib her.« Er nahm ihr die Kanne ab, stellte sie auf den Boden, griff nach ihren Händen und legte ihre Arme um den dünnen Baumstamm, so dass sie ihn umarmte. Sanft drückte er ihre Wange gegen die glatte frische
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