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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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wuchtigen schmiedeeisernen Tor versperrt war. Auf den beiden Steinsäulen links und rechts daneben saß jeweils ein steinerner Keiler, der drohend seine Hauer auf uns richtete. Bäume in vollem Blätterkleid versperrten uns die Sicht. John stieg aus und faltete auf dem Wagendach die Straßenkarte auf.
    »Von da oben könnten wir vielleicht etwas sehen«, sagte er und deutete zu einem Aussichtspunkt, der auf der Karte eingezeichnet war.
    Ich konnte ihm nicht folgen, vertraute aber auf seinen Orientierungssinn. John wendete und fuhr auf derselben Straße zurück, die wir gekommen waren, um auf einem Picknickplatz am Fuß des Schlosshügels zu parken.
    Wir folgten einem breiten, bequemen Fußweg, über den sich ein Dach aus großblättrigen Baumkronen wölbte. Eichhörnchen tummelten sich über unseren Köpfen, und Vogelgezwitscher begleitete uns auf dem sonnengesprenkelten Weg. Es war sehr idyllisch. Die Luft war frisch, und ein Gefühl von Frieden durchströmte mich, als hätte ich erst hierherkommen müssen, um es endlich zu finden.
    John ging mit großen Schritten voran. »Ich muss sagen, das hier ist wesentlich besser, als in einem Konferenzraum herumzuhocken.«
    Ich vermutete jedoch, dass er nur mein schlechtes Gewissen beruhigen wollte. Wahrscheinlich fragte er sich insgeheim, was er wohl verpasste und wie er seinen Kollegen seine Abwesenheit erklären sollte.
    Auf dem weiteren Weg sprach er nicht mehr viel, und mir war es recht, da ich in meine Gedanken versunken war. Der Pfad wurde schmaler und steiler. Ich zog den Pullover aus und band ihn mir um die Hüfte. Mir war heiß, und ich bereute, das Haar nicht zusammengebunden zu haben. Ich fragte mich, ob Ellen als kleines Kind in diesem Wald gespielt hatte. Vermutlich. Anne Brecht war eine große Naturliebhaberin gewesen, bestimmt war sie mit Ellen in diesem Wald gewesen und hatte Picknick gemacht. Und war Ellen später, bei ihrem zweiten Aufenthalt, hier spazieren gegangen? Hatte sie da bereits gewusst, dass sie schwanger war? War sie allein durch den Wald gegangen? O Gott, wie einsam musste sie gewesen sein, ohne ihre Mutter und ohne Kontakt zu Jago, allein mit dem Geheimnis, das in ihrem Leib wuchs.
    Wir waren auf der Hügelkuppe angekommen. Ich stützte die Hände auf die Knie und beugte mich keuchend nach vorn. Meine Beine taten von der Anstrengung weh, aber es war ein gutes Gefühl.
    »Hannah!«, rief John. »Komm und sieh dir das an!«
    Ich folgte ihm zu einer Schneise zwischen den Bäumen. Eine aus einem Baumstamm gehauene Bank stand an einer Stelle, von wo aus sich einem ein herrlicher Blick auf das Tal bot. Und dort, etwas weiter unten am Hügelhang, lag das Schloss, eine weitläufige Anlage aus mehreren Gebäuden, umgeben von einem kleinen gepflegten Park, der in Felder und Wiesen überging.
    Der Fluss schlängelte sich wie ein riesiges graugrünes Band hufeisenförmig um das Anwesen.
    »Wow«, sagte ich. »Das ist wunderschön.«
    »Ja, nicht schlecht.«
    »Ellen hat immer gesagt …« Ich ließ den Satz unbeendet, schließlich hatte ich ihren Erzählungen von ihrem Leben in Magdeburg nie so recht Glauben geschenkt. Das Schloss schien mir damals eher in den Bereich ihrer Phantasie zu gehören.
    Das Haupthaus hatte drei Stockwerke, und die oberste Fensterreihe befand sich direkt unter dem roten Ziegeldach. Das Anwesen war groß, machte aber einen freundlichen, fast ein wenig planlosen Eindruck, als wären die Gebäude über die Jahre hinweg aufs Geratewohl und ohne allzu große ästhetische Überlegungen hinzugefügt worden. Während ich oben auf dem Hügel stand und hinabschaute, hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Mir war, als stünde Ellen schräg hinter mir und würde mit mir den Anblick genießen. Mit der Hand stützte ich mich an einem Baum ab und starrte gebannt auf das Bild, das sich mir bot. Ich war mir sicher, dass Ellen einmal genau hier gestanden hatte, genau an derselben Stelle, neben diesem Baum. Das Gefühl war so stark, dass ich meinte, ich bräuchte nur die Hand auszustrecken und Ellen würde sie ergreifen. Ich vermisste sie. Ich vermisste sie von ganzem Herzen. Einen Augenblick lang war der Schmerz schier unerträglich.
    »Hannah? Alles okay mit dir?«
    »Ja, ja, es geht mir gut. Glaubst du, die Brechts leben noch immer hier?«
    »Warum nicht. Es sei denn, sie sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Ansonsten bleibt ein solcher Besitz normalerweise in der Familie.«
    Ich setzte mich auf die Bank und versuchte, jede Einzelheit mit

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