Das Dornenhaus
dem Blick zu erfassen. Im Park saß jemand auf einem Rasenmäher und mähte das Gras am Rand der Auffahrt. Man konnte das Dröhnen des Motors bis zu uns herauf hören. Mir war, als hörte ich auch Musik aus dem Haus, nur vereinzelte Fetzen hie und da, die der Wind herantrug. Vielleicht täuschte ich mich ja auch. Im Hof vor dem Schloss parkten mehrere Autos.
»Jemand kommt heraus«, sagte John.
»Wo?«
»Dort, an der Seite. Jemand geht in den Garten.«
Ich reckte den Hals und spähte angestrengt, dann sah ich es auch. Wir waren zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen, aber es war eine Frau. Sie war schlank und hatte dunkles, schulterlanges Haar. Alles an ihr war mir zutiefst vertraut.
Ich umklammerte Johns Arm.
»Was ist los?«
»Du siehst doch diese Frau, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Dann ist sie also real, und ich bilde es mir nicht ein?«
»Ich würde sagen, sie ist absolut real.«
Ich wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn an.
»Das ist sie, John. Das ist Ellen Brecht.«
SECHSUNDFÜNFZIG
N achdem ich kaum geschlafen hatte, wachte ich am nächsten Morgen schon bei Tagesanbruch auf. Mit einem bangen Gefühl wartete ich, bis es spät genug war, um nach Thornfield House zu radeln und Jagos Sachen zu holen.
»Was um Himmels willen ist heute Morgen mit euch beiden los?«, fragte Mum, die am Herd stand und Rühreier machte.
»Jago ist mit den Vögeln aufgestanden und aus dem Haus gestürzt, und nun zappelst du herum, als hättest du Hummeln im Hintern.«
»Ich will nachher zu Ellen gehen«, sagte ich. »Sehen, ob ich ihr noch was bei der Vorbereitung ihrer Party helfen kann.«
»Wann ist die Party?«
»Am Freitag.«
»Ach so.« Meine Mutter schabte das Rührei auf einen Toast und reichte mir den Teller. »Wer kommt denn alles zu dieser Party?«
»Ich glaube, vorwiegend Familienangehörige. Ich nehme an, dass ihre Verwandten aus Deutschland kommen.«
»Ja, gut möglich«, sagte Mum.
Ich hatte keinen Appetit, aber ich aß, damit meine Mutter Ruhe gab, und kaum war ich fertig, machte ich mich auf den Weg nach Thornfield House. Als ich die Türklingel drückte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Mrs Todd machte auf. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Miene ernst.
»Ellen ist im Garten«, sagte sie und trat zur Seite, um mich hereinzulassen. Seit dem Tag in der Klinik waren Mrs Todd und ich befangen, wenn wir uns begegneten, wie zwei Komplizen wider Willen, die ein Geheimnis teilten. Aber ich wusste, dass ihr ernstes Gesicht noch etwas anderem geschuldet war. Irgendetwas stimmte nicht.
Ich ging durch das Haus ins hintere Wohnzimmer und trat durch die Terrassentür in den Garten. Es war noch früh am Morgen und noch nicht warm, aber Ellen saß auf einem Stuhl unter der Trauerweide und las. Ihre Körperhaltung sagte mir, dass ihr ganz und gar nicht nach Lesen zumute war. Ihr Rücken war kerzengerade, ihre Schultern waren angespannt, alles an ihr wirkte eckig und steif. Ihr Vater saß neben ihr und putzte sein Gewehr. Als ich es sah, schrak ich zurück, doch dann fasste ich mir ein Herz und trat zu ihnen.
»Hallo!«
Mr Brecht sah hoch und ließ den Kopf wieder sinken, als hätte er mich nicht bemerkt.
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben Ellen. Sie atmete seltsam, es klang fast wie ein Keuchen.
»Alles okay?«, fragte ich leise. Sie nickte kaum merklich und blätterte eine Seite ihres Buchs um.
»Jemand hat gestern Nacht versucht, bei uns einzubrechen, Hannah«, sagte Mr Brecht. »Ist das nicht merkwürdig? Wir sind doch wahrlich vom Pech verfolgt, dass uns schon wieder ein Einbrecher ins Visier genommen hat, nicht wahr?«
»Ja, wie schrecklich!«, erwiderte ich. Die Worte hörten sich so falsch an; künstlich und alles andere als überzeugend.
»War es ein Dieb?«
»Ich weiß nicht«, sagte Mr Brecht. »Jedenfalls hat er versucht, etwas mitzunehmen, so viel steht fest.« Er lachte.
»Papa hat die Polizei gerufen«, ergänzte Ellen mit lauter, brüchiger Stimme. »Sie meinen, dass es ein Zufallseinbruch war. Ein Gauner, der an unserem Haus vorbeigegangen ist und mal sehen wollte, ob es bei uns was zu holen gibt.«
»Was hältst du davon, Hannah?«, fragte Mr Brecht und sah mich mit einem Lächeln an, als könnte er geradewegs in meine Seele blicken.
Er machte mir Angst, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Bestimmt würde er merken, ob ich die Wahrheit sagte oder log, dessen war ich mir sicher.
»Ich … ich weiß nicht.«
»Das Merkwürdigste aber
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