Das Dornenhaus
die in Falmouth ihren Sitz hatte. Darin stand, dass Ellen die Einzelheiten ihrer Erbschaft den beiliegenden Dokumenten entnehmen könne. Sie möge bitte den Brief gegenzeichnen und zurückschicken, um den Erhalt der Unterlagen zu bestätigen. Ellen legte die einzelnen Dokumente kreisförmig im Gras um sich herum aus, sodass sie wie Blütenblätter wirkten.
»Ist ein Scheck dabei?«, fragte ich.
Sie verneinte.
Die Köpfe zusammengesteckt, begannen wir, die einzelnen Schriftstücke zu studieren. Ich nahm einen kleinen Stapel zusammengehefteter Blätter in die Hand. Es war eine Kopie des Grundbucheintrags von Thornfield House.
»Deine Großmutter hat dir das Haus vermacht, Ellen«, sagte ich.
»Ich will das Haus nicht. Ich hasse es. Was soll ich damit?«
»Du könntest es verkaufen …«
»Aber das würde eine Ewigkeit dauern, nicht wahr? Jago und ich brauchen das Geld jetzt! Wie soll ich das Haus verkaufen, wenn ich in Amerika bin? Und was sind das noch für Dokumente?«
Wir schauten uns die restlichen Unterlagen an: Sie betrafen eine Hypothek, die Refinanzierung des ursprünglichen Kredits sowie weitere Kredite, die auf das Haus aufgenommen worden waren.
Ein leiser Verdacht stieg in mir auf.
»Was ist das alles?«, fragte Ellen. »Was soll das bedeuten?«
Ich las eine Passage eines Dokuments: »Der Kredit in Höhe von 20 000 £ … noch ausstehend … Zinsen … inklusive Gebühren.« Die Kredite waren auf den Namen von Ellens rechtlichem Vormund, ihrem Vater, ausgestellt.
»Ich weiß auch nicht, was das bedeutet«, sagte ich. »Du wirst jemanden fragen müssen, der sich mit solchen Dingen auskennt.«
Ellen zog die Stirn in Falten, nagte an den Fingerknöcheln.
»Nirgendwo steht etwas von einer Geldsumme, die ich bekommen soll.«
»Nein.«
Ellen hob den Kopf und sah mich an. Sie wirkte jetzt sehr jung, wie ein Kind, das gerade etwas sehr Wichtiges über die Welt gelernt hat.
»Es gibt also kein Vermögen, stimmt’s, Hannah?«, fragte sie. »Es gibt kein Geld. Selbst wenn ich das Haus verkaufen sollte, würde nichts übrig bleiben. Es ist mit Hypotheken belastet. Deswegen hat Papa gelächelt. Er wusste es.«
Ich berührte sie an der Schulter. Sie zuckte zurück.
»O Gott, Hannah«, sagte sie. »Was sollen wir jetzt tun? Was wird Jago sagen? Die ganze Zeit habe ich ihm erzählt, dass wir Tausende von Pfund haben werden, und nun …«
»Das ist nicht so schlimm«, sagte ich. »Jago ist das Geld nicht so wichtig. Wirklich nicht. Bleib ruhig, Ellen. Du darfst deinem Vater jetzt nicht zeigen, wie aufgebracht du bist. Solange du einen kühlen Kopf bewahrst, ist nichts verloren, du kannst trotzdem fliehen. Es hat sich ja nicht wirklich etwas geändert.«
Mrs Todd erschien in der Tür und rief uns.
»Tu so, als wäre nichts passiert«, sagte ich.
Ellen nickte. Sie wirkte, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Die ganze Zeit hatte sie sich als Regisseurin eines Films gewähnt, in dem sie die Hauptrolle spielte, und plötzlich hatte jemand anderes die Regie übernommen. Sie sah mich an, als erwartete sie, ich könnte ihr sagen, wie es weitergehen sollte. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, hatte Ellen Brecht die Kontrolle verloren.
Wir begaben uns ins Haus. Meine Mutter war mit dem Putzen fertig und verabschiedete sich von uns. Wir aßen etwas von dem Mittagsimbiss, kaltem Braten und Salat, den Mrs Todd vorbereitet hatte. Dann gingen wir in Ellens Zimmer, und ich saß eine Weile neben ihr, während sie still und erschöpft und mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag.
Später rief uns Mrs Todd zu sich in den hinteren Garten, um ihr dabei zu helfen, das Zelt zu dekorieren. Ein paar Bierzelttische waren entlang der hinteren Wand aufgereiht, und in der Mitte des Zeltes stand ein kleiner runder Tisch – für die Geburtstagstorte, wie ich vermutete.
»Gibt es ein Büfett?«, fragte ich.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte Ellen.
In diesem Moment wurde die Zeltbahn am Eingang schwungvoll zur Seite gezogen, und Mr Brecht erschien, die Arme voller gelber Rosen und Lilien und weißer Bänder.
»Die Dekoration ist eingetroffen«, sagte er. »Sind die Blumen nicht wunderschön!«
»Aber Papa, wir haben doch sonst auch nie Blumen, warum …«
»Heute ist dein achtzehnter Geburtstag! An solch einem Tag sollte jedes Mädchen Blumen bekommen.«
Er legte die Blumen auf einen der Tische.
»Da sind auch Laternen«, sagte er. »Und Kerzen. Lass uns den Garten wunderschön
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