Das Dornenhaus
Weile hörten wir nebenan laute Stimmen. Der Hund duckte sich hinter einen der Wohnzimmersessel und pinkelte auf den Teppich.
»Am besten, ich geh dann mal wieder«, sagte Jago und stand auf. Er war schmutzig und verwahrlost und wirkte zu groß und fehl am Platz in unserem blitzsauberen, aufgeräumten kleinen Wohnzimmer.
»Wohin willst du denn gehen?«, fragte meine Mutter.
Jago zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwohin. Ich will niemandem zur Last fallen. Werd schon was finden.«
Dad drehte den Fernseher lauter, um den Lärm von nebenan zu übertönen. Dann sagte er, es wäre sehr hilfreich, wenn Jago vorerst bei uns wohne, zumindest so lange, bis sich der Hund eingelebt habe. Mum beeilte sich, ihm zuzustimmen, als handelte es sich um einen längst beschlossenen Plan.
»Genau. Du wirst uns doch nicht allein mit ihr lassen, wo sie sich noch so fremd fühlt«, sagte sie. »Das kannst du nicht machen, Junge.«
Jago wirkte weiterhin unschlüssig, traute sich aber offensichtlich nicht, die Bitte auszuschlagen.
Mum ging nach oben, um in der Abstellkammer ein Bett für Jago zu richten. In einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, forderte Dad Jago auf, sich wieder zu setzen. Ich konnte es kaum erwarten, Ellen von den Vorkommnissen zu berichten – bestimmt würde sie große Augen machen.
Den restlichen Abend saßen Dad und Jago zusammen auf dem Sofa, beide mit verschränkten Armen, beide ein wenig unbehaglich, und sahen sich ein Fußballspiel im Fernsehen an. Ich hockte mich neben die Hündin auf den Läufer und fütterte sie mit Käse, wahrscheinlich weil ich hoffte, sie würde sich so schneller eingewöhnen. Irgendwann meinte Dad, es sei Zeit, ins Bett zu gehen, und stand auf.
Ich wartete, bis Jago im Badezimmer fertig war, dann klopfte ich an seine Kammer.
»Jago, ich bin’s.«
»Was ist?«
Ich machte die Tür auf. Die Abstellkammer war ein schmaler, enger Raum unter der Dachschräge. Es roch nach Mottenkugeln und dem ranzigen Öl, mit dem Dad seine Angelruten reinigte. Jago saß ungelenk auf dem Bett mit der grellrosa Tagesdecke. Sein Gesicht war rot und fleckig, und ich wusste, dass er geweint hatte. Peinlich berührt, heftete ich den Blick auf meine Füße; er sollte nicht merken, dass ich es gesehen hatte.
»Was ist?«, fragte er erneut, etwas aggressiver diesmal. Er wischte sich mit dem Zeigefinger die Nase ab.
»Wie heißt der Hund?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Sie hat keinen Namen.«
Von nebenan drang ein Klirren, als wäre Glas zu Bruch gegangen, gefolgt von Caleb Cardells lautem Gebrüll.
»Verdammter Wichser«, murmelte Jago.
»Ja«, sagte ich, »das ist er.«
Jago schnaubte abfällig. Er gab einen ordinären, kehligen Laut von sich, den ich zugleich abstoßend als auch erregend fand. Ein typisches Jungengeräusch.
»Ist es okay, wenn ich den Hund Trixie nenne?«, fragte ich.
»Mach, was du willst. Is’ mir egal.«
Jago kehrte nicht mehr in das Haus Nummer zehn in der Cross Hands Lane zurück. Kurz nachdem er bei uns eingezogen war, wurde Calebs Haus zwangsgeräumt, und er verschwand spurlos, ohne sich von uns zu verabschieden. Wir taten, als wäre es besser so. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich Jago bei uns eingelebt hatte, aber dann war es, als hätte er schon immer zu unserer Familie gehört. Er betete meine Eltern an, besonders meinen Vater, und mein Vater war stolz auf ihn wie auf einen eigenen Sohn.
Und so wurde Jago Cardell, mein Kindheitsfreund und Nachbar, der erste Junge, der mich geküsst hatte, zu meinem Bruder.
Fast zu meinem Bruder.
DREIZEHN
N ach meinem Telefonat mit Julia machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Die Sonne stand noch niedrig am Himmel, aber die Luft roch nach Sommer und kündigte einen weiteren schönen warmen Tag an. Ich traf gleichzeitig mit unserer Praktikantin Misty beim Museum ein, mit dem Unterschied, dass ich zu Fuß war, während sie aus einem kleinen, flotten schwarzen Wagen stieg.
»Tschüss, Süße, ich wünsch dir einen schönen Tag!« Ein junger Mann saß auf dem Fahrersitz und winkte Misty zum Abschied zu. Sie antwortete mit einem spöttischen Grinsen, das man bei einem normalen Menschen als unfreundlich hätte deuten können, aber bei Misty so ziemlich das Netteste war, was man von ihr erwarten konnte. Als sie mich sah, hob sie grüßend die Hand.
»Wer war das?«, fragte ich.
»Ach, so ein Loser, vergiss es.«
»Nicht dein Freund?«
»In seinen Träumen vielleicht.«
Ich lächelte. Wenn ich doch nur ihr
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