Das Dornenhaus
Selbstvertrauen gehabt hätte!
Misty und ich gingen gemeinsam durch den Personaleingang ins Museum. Ich hängte meine Jacke an den Garderobenständer in der Ecke des Raums mit dem pädagogischen Anschauungsmaterial und warf dann einen Blick auf den Terminkalender an der Pinnwand.
»Puh, jede Menge los heute Vormittag«, sagte ich. »Zwei Schulklassen.«
»Na toll«, erwiderte Misty.
»Machst du uns einen Kaffee, Misty?«
Ich war fest entschlossen, den ganzen Tag über gute Laune zu verbreiten. Meine Kollegen sollten nicht merken, wie sehr mich das Erlebnis vom Vortag aus der Bahn geworfen hatte. Ich wollte nicht, dass sie mich darauf ansprachen oder mir ansahen, dass ich kaum geschlafen hatte und wie es mir wirklich ging. Am besten, ich tat, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert, und ging betont gelassen zur Tagesordnung über.
In Johns Büro brannte Licht. Ich klopfte an die Tür und öffnete sie.
John saß am Schreibtisch und rieb sich mit dem Handballen die Augen. Als er mich erblickte, richtete er sich auf und bemühte sich zu lächeln, obgleich er den Eindruck machte, als hätte er noch weniger Schlaf abbekommen als ich.
Ich lächelte ebenfalls. »Ich wollte mich nur noch mal für gestern Abend bedanken.«
»Nein, ich muss mich bei dir bedanken.«
»Wieso? Ich habe doch nichts für dich getan.«
»Doch, du hast mich in Bezug auf den Anbau auf ein paar großartige Ideen gebracht. Vielleicht könntest du sie aufschreiben, Hannah. Mail mir doch bitte ein paar Stichworte.«
»Klar, mach ich.«
Er hob den Blick und sah mich an. Das Weiße in seinen Augen war vor Müdigkeit fast rosa, aber seine Iris waren von einem klaren silbrigen Grau. Das war mir bislang noch gar nicht aufgefallen. Gern hätte ich ihm etwas Persönliches gesagt, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein, was nicht unaufrichtig oder wie eine Plattitüde geklungen hätte.
»Ich wünsche dir einen schönen Vormittag, John«, sagte ich schließlich. Dann ging ich hinaus und schloss die Tür leise hinter mir.
Während ich mich in die Büroarbeit stürzte, hielt ich den Blick fest auf den Schreibtisch gerichtet und die Schultern gerade, um jegliche Nachfragen bezüglich meines seelischen Befindens abzuwehren. Eine Körpersprache, die ausdrücken sollte, dass es mir gut ging und ich für Small Talk keine Zeit hatte.
Ich glaube nicht, dass jemand bemerkte, wie ich mich immer wieder verstohlen umsah, mich vergewisserte, dass mich niemand beobachtete. Die ganze Zeit hielt ich mich möglichst mit dem Rücken zur Wand, um alles im Blick zu haben.
Als Erstes traf eine Gymnasialklasse mit Elfjährigen aus Bristol ein. Eine fröhliche Schar von Kindern, die aussahen, als würden sie mit reichlich Gemüse und Orangensaft ernährt. Ihre glänzenden Schuhe und die ordentlichen Anziehsachen schienen eine Nummer zu groß gekauft, sodass sie noch hineinwachsen konnten. Ich rief mir Jago ins Gedächtnis, als er in ihrem Alter war. Bei ihm hatten die Ärmel nie bis zu den Handgelenken gereicht, und er hatte entweder verschlissene, löchrige Jeans oder einen abgetragenen, schäbigen Trainingsanzug von seinem Onkel getragen. Ich erinnerte mich an seine aufgesprungenen Lippen und sein warmherziges, schiefes Lächeln. Seinen säuerlichen Atem – er besaß nicht einmal eine Zahnbürste – und den fehlenden oberen Vorderzahn, den ihm wahrscheinlich Mr Cardell ausgeschlagen hatte. Die Zahnlücke verlieh ihm etwas Verwegenes, aber nachdem er zu uns gezogen war, ließen meine Eltern den fehlenden Zahn ersetzen.
Jetzt lebte Jago auf der anderen Seite der Erde. Herrgott, wie ich ihn vermisste. Einige Jahre hatte er als Nachhaltigkeitsberater für den Fischereiverband einer kleinen Hafenstadt in Neufundland gearbeitet. Zu meinen Eltern hielt er immer noch Kontakt. Zu ihrer Goldenen Hochzeit hatte er ihnen sogar eine Transatlantik-Schiffsreise geschenkt. Er hatte sie in New York abgeholt und ihnen einen, um in Mutters Worten zu reden, »feudalen Urlaub« bereitet. Das war Jagos Art, sie über die Tatsache hinwegzutrösten, dass er so weit weggezogen war. Es war einige Jahre her, dass ich Jago zuletzt gesehen hatte, kurz nach Vaters Herzinfarkt. Ich traf in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus von Truro ein. Eine Schwester wies mir den Weg zu der Station, auf der Vater lag. Er war in einem Zimmer im Bereich für Privatpatienten am Ende des Korridors untergebracht. Mum war neben ihm in einem Sessel eingeschlafen. Eine Schwester hatte eine Decke
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