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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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kann nicht sagen, welche Art von Gefühlen er mir gegenüber empfand. Wie sollte ich es auch wissen? Wir gehörten nicht zu der Sorte Familie, in der man über Gefühle sprach.
    Kurz nachdem Jago zu uns gekommen war, wurde er sechzehn. Dad meinte, es sei vielleicht gut, wenn er von der Schule abging und etwas Sinnvolles lernte, etwas, was ihm Spaß machte, statt gelangweilt in einem Klassenzimmer herumzusitzen und dem Lehrer und sich selbst die Zeit zu stehlen. Mit seiner praktischen Begabung fand er eine Lehrstelle als Schiffsmechaniker. Zwei Tage in der Woche ging er zur Berufsschule, die restliche Zeit über arbeitete er für Bill Haworth, einen Freund meines Vaters, der ein Boot besaß, die Eliza Jane, die vor Polrack fischte. Jago hatte Spaß an der Arbeit, und Bill sagte, er mache sich gut.
    Jago kam mit jedem Wetter zurecht. Er mochte Regen ebenso wie Sonnenschein. Mum und ich saßen oft auf der Hafenmauer und beobachteten, wie die Eliza Jane einlief. Sobald wir Jago auf Deck stehen sahen, schrien wir ihm einen Gruß zu. Wie er so dastand, ein Tau in den Händen, über ihm eine Schar kreischender Seemöwen, sah er wie ein richtiger Mann aus. Dann hob er die Hand, um meine Mutter und mich ebenfalls zu grüßen, und ein freudiger Schauer durchlief mich. Ich stellte mir vor, wir wären ein Paar und er wäre ein Seemann, der zu mir, seiner Liebsten, nach Hause käme. Ständig gab ich mich solchen Junge-Mädchen-Phantasien hin. Aber ich glaube nicht, dass mehr dahintersteckte.
    Als Jago seinen ersten Lohn bekam, kaufte er für uns Geschenke: eine Schachtel Minzetäfelchen für Mum, eine Angelfliege für Dad und für mich eine Halskette aus winzigen, auf eine Schnur gezogenen Muscheln.
    Jeden Morgen, wenn Jago zur Arbeit ging, kniete ich mich auf mein Bett, zog den Vorhang zur Seite und beobachtete, wie er das Haus verließ. Ehe er sich bückte, um die Schnürsenkel seiner Stiefel zu binden, stellte er seinen Teebecher auf den Deckel der Regentonne. Dampfwölkchen stiegen von dem heißen Getränk auf. Ich blickte zu Jago hinunter und malte ein fröhliches Strichgesicht auf die von meinem Atem beschlagene Fensterscheibe. Jedes Mal sah Jago zu mir herauf und winkte mir zu. Wenn er sich dann auf den Weg machte, legte ich die Spitzen von einem Daumen und einem Zeigefinger an die Scheibe und rahmte ihn damit ein. Und je weiter er sich entfernte und je kleiner seine Gestalt wurde, desto mehr schob ich die Fingerspitzen zusammen.
    Wenn Jago auf dem Boot arbeitete, gingen Ellen und ich manchmal allein zum Bleached Scarp.
    An einen dieser Tage erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen, denn an diesem Tag erfuhr ich, dass Ellens Mutter sterben würde. Die Sonne schien, aber es wehte ein frischer Wind. Ellen lag auf einem gestreiften Handtuch in der Nähe der Klippenwand, wo es ein wenig windgeschützt war. Einen Zeichenblock auf den Knien, saß ich neben ihr. Ich musste für den Kunstunterricht das Meer zeichnen, aber es wollte mir nicht so recht gelingen. Stattdessen beschattete ich mit der Hand die Augen und folgte mit dem Blick einem kleinen Boot, das sich am Horizont dahinschob. Plötzlich wurde es von einer Welle hochgehoben und verschwand dann.
    »Denkst du, das ist die Eliza Jane?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung«, murmelte Ellen, ohne aufzusehen.
    Ich seufzte und machte eine Kaugummiblase. Ellens kleines Transistorradio stand auf einem flachen Felsvorsprung in der Nähe und dudelte blechern klingende Popmusik. Der Wind trug die Musik mal in eine, mal in die andere Richtung davon. Ellen lag auf dem Bauch, den Kopf auf den verschränkten Armen.
    »Würdest du mich bitte einölen?«, fragte sie mit schläfriger Stimme.
    Ich ließ die Blase platzen und zog den Kaugummi in den Mund zurück. Dann legte ich Zeichenblock und Bleistift neben mich, griff nach dem Sonnenöl, ließ den Verschluss aufschnappen, schnupperte daran und presste einen Klecks des orangefarbenen Öls in die linke Handfläche. Ich betrachtete Ellens schmalen, gebogenen Rücken. Sie trug einen grünen Badeanzug, der von zwei im Nacken gebundenen Bändern gehalten wurde.
    Ich zögerte. Irgendwie scheute ich mich, Ellens Haut zu berühren.
    Ihr Rücken hatte bereits die Farbe von dunklem Honig. Die winzigen Härchen darauf waren so ausgeblichen, dass sie fast unsichtbar waren. Auf einer geraden Linie von ihrer rechten Schulter bis zum Band ihres Badeanzugs saßen drei Muttermahle.
    »Mach schon«, sagte Ellen. »Meine Schultern brennen bereits.«
    Ich

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