Das Dornenhaus
über sie gebreitet und ein Kissen zwischen ihre Schulter und die Wange geschoben, damit sie keinen steifen Hals bekam.
Ein kräftiger, breitschultriger Mann in einer schlecht sitzenden Jeans, einem verschlissenen grauen T-Shirt und mit einem Lederband um den muskulösen Hals saß, die Ellbogen auf die gespreizten Knie gestützt, auf einem Hocker auf der anderen Seite des Bettes. Er hatte kurz geschorenes Haar, tätowierte Unterarme und ein wettergegerbtes Gesicht. Zuerst erkannte ich ihn nicht, aber als er aufstand und sich unsere Blicke trafen, fühlte ich mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt.
»Jago!«, sagte ich und fragte mich, wie es sein konnte, dass er, der doch Tausende von Kilometern entfernt lebte, vor mir an Vaters Krankenbett eingetroffen war. Ich trat auf ihn zu, um ihn zu umarmen, aber er wich einen Schritt zurück. Seine Abweisung versetzte mir einen schmerzhaften Stich.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
Jago ignorierte meine Frage und sagte stattdessen: »Dad geht es den Umständen entsprechend gut. Die Ärzte meinen, dass er es schaffen wird.«
Ich sah meinen Vater an, der, auf dem Rücken liegend und eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase, wie ein hilfloses Kind wirkte. Er war erschreckend blass und reglos. Ich dachte, dass er bestimmt entsetzt wäre, wenn er wüsste, wie unangenehm es für Jago und mich war, uns im selben Raum zu befinden.
»Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn ich mich zu euch setze?«, sagte ich in kühlem, sachlichem Ton.
Jago zuckte die Achseln. Ich zog einen Stuhl an die gegenüberliegende Bettseite heran, sodass Vater zwischen uns lag. Seine Hände ruhten zu beiden Seiten seines gewölbten, von einem Betttuch bedeckten Bauchs, während meine Mutter im Hintergrund leise schnarchte. Seit ich achtzehn und Jago zwanzig gewesen war, befand sich unsere Familie zum ersten Mal wieder vollzählig in einem Zimmer, und wir hatten uns nichts zu sagen, Jago und ich.
VIERZEHN
A ls wir jünger waren, war das anders gewesen. Es gab eine Zeit, eine kurze Zeit, als unsere Welt noch in Ordnung und wir glücklich waren. Jago wohnte bei uns, Caleb Cardell war spurlos verschwunden, ich verlor allmählich meinen Babyspeck und hatte dank der Zahnspange gerade Zähne. Ellens Vater war noch immer ein Charmeur und immer zu Späßen aufgelegt, und ihre Mutter kam trotz ihrer Krankheit noch einigermaßen zurecht.
Zu jener Zeit wachte ich morgens mit einem erregenden Glücksgefühl auf, denn Jago hatte eine Energie in mein Leben gebracht, die vorher nicht da gewesen war. Dad war als plötzlicher Vater eines Sohnes ganz in seinem Element. Er ermunterte Jago, dem Kricketteam beizutreten, das er trainierte, und nahm ihn mit zum Angeln. Eines Tages lud er den alten Ford Escort RS , der in einer Ecke im Schuppen der Williams’schen Farm vor sich hin rostete, auf einen geborgten Anhänger und bockte ihn auf Backsteinziegeln in unserem Garten auf, um ihn mit Jago instand zu setzen. Wenn der Wagen irgendwann einmal fahrtüchtig wäre, sollte Jago ihn bekommen. Vater meinte, Jago könne dann alle anfallenden Reparaturen selbst erledigen, nachdem er mitgeholfen hatte, ihn aus sämtlichen Einzelteilen neu zusammenzubauen. Den Wagen wieder flottzumachen, entpuppte sich dann tatsächlich als ein nicht enden wollendes Projekt, das sich über mehrere Jahre erstreckte.
Mum kochte jeden Tag ein warmes Abendessen für Jago und wusch seine Wäsche. Er zeigte ihr seine Zuneigung, indem er auf seine Ausdrucksweise achtete und ungebeten kleinere Arbeiten für sie erledigte. Er holte Kohle, fegte Laub aus der Dachrinne, kümmerte sich um verstopfte Rohre und wischte hinter Trixie her, wenn ihr mal wieder ein Missgeschick passierte. Für mich war es nicht so einfach, mit der geänderten Situation umzugehen: Plötzlich sollte ich in Jago nicht länger nur den Freund, sondern eine Art Bruder sehen. Jago faszinierte mich, aber meine Gefühle ihm gegenüber waren konfus und widersprüchlich. Ich liebte ihn, wusste jedoch nicht, warum oder welcher Art diese Liebe war. Noch heute bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn als Bruder sah, als Freund oder als möglichen Liebhaber. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus all dem. Die verrückt spielenden Hormone während der Pubertät taten ihr Übriges. Außerdem war da eine tiefe Zuneigung, die ich dem Nachbarjungen schon immer entgegengebracht hatte, der von klein auf Teil meines Lebens gewesen war und im Haus nebenan so viel Leid hatte erdulden müssen.
Ich
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