Das Dornenhaus
hinaufgehen?«, fragte Ellen Mrs Todd.
»Wartet lieber noch ein paar Minuten«, sagte die Haushälterin. Sie öffnete die Schranktür unter der Spüle, nahm Schaufel und Handbesen und ein Putztuch heraus und ging mit angespannter Miene in den Flur, um das Chaos zu beseitigen.
Die Zeit zog sich in die Länge, die Luft schien dicker zu werden, es war, als würde jeder noch so kleinen Bewegung eine Bedeutung zukommen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien Mrs Todd wieder in der Küche und nickte uns zu. Die roten Nelken ließen wir in ihrem Papier auf dem Küchentresen liegen. Ich folgte Ellen die Treppe hinauf. Der Läufer fühlte sich feucht unter meinen Füßen an. Mrs Brecht lag in dem Zimmer neben Ellens, im vorderen Teil des Hauses. Obwohl es ein großer Raum war, wirkte er wie eine Höhle. Er wurde nur spärlich von einer Stehlampe in einer Ecke und einer kleinen Nachttischlampe beleuchtet, die mit einem roten Tuch bedeckt war, um das Licht zu dämpfen. Eine Aufnahme mit Klaviermusik ertönte, sanft wogten die Klänge durch das Zimmer wie draußen der Nebel, schlichen sich in mich hinein, bis sie zu mir zu gehören schienen wie mein Atem. Ohne die besänftigende und belebende Wirkung der Blumen erschien das Zimmer kahl. Auf merkwürdige, verdrehte Weise glich es einem Brautzimmer, das seines Schmuckes beraubt war.
Mrs Brecht, eine Braut des Todes, wirkte so winzig in ihrem Bett, ihr Körper so abgemagert, dass er sich kaum unter der Bettdecke abzeichnete. Und doch hatte sie sich im Angesicht des Todes einen Hauch ihrer früheren Eleganz bewahrt. Ihr Haar glänzte noch immer, ihre Nägel waren penibel gefeilt, und ihr schönes Gesicht, das, als ich sie zuletzt gesehen hatte, schmerzverzerrt gewesen war, war jetzt entspannt, die Haut glatt. Sie sah wie ein Kind aus, beinahe überirdisch. Aus einer Infusionsflasche tropfte Flüssigkeit in den Schlauch, der mit der Nadel an ihrem Handrücken verbunden war. Ihr Kopf ruhte auf weißen Kissen, und eine Patchworkdecke war bis zu ihrer Brust hochgezogen. Sie trug einen cremeweißen Seidenpyjama. Ihre Augenlider flatterten, als Ellen und ich das Zimmer betraten. Der Heizkörper war auf die höchste Stufe gedreht, und eine süßliche Wärme hing im Zimmer. Mr Brecht saß auf einem Stuhl am Bett, hielt die Hand seiner Frau und sah sie unverwandt an. Ellen setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Ich stellte mich ans Fenster und zog den Vorhang einen Spaltbreit zurück. Draußen sah ich Adam Tremlett im Nebel am Tor stehen. Er riss in der hohlen Hand ein Streichholz an. Während er sich die Zigarette anzündete, blickte er zum Fenster hoch, und unsere Blicke begegneten sich. Mir fiel auf, dass er die Schnürsenkel seiner Stiefel nicht zugebunden hatte. Ich ließ den Vorhang zurückgleiten und wandte mich wieder dem Krankenbett zu.
»Bald hast du es geschafft, Liebste«, sagte Mr Brecht mit sanfter Stimme. »Bald ist alles vorbei, und deine Schmerzen haben ein Ende.« Er beugte sich über Mrs Brecht, während er weiterhin ihre Hand in seinen Händen hielt. Ihre Lippen waren einander ganz nah, und ich stellte mir vor, wie sich ihr Atem vermischte. Ich fand seine Worte schockierend mutig und gleichzeitig wunderschön. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn meine Eltern in der gleichen Situation wären; bestimmt würde derjenige, der nicht im Sterben lag, dem anderen versichern, dass alles gut würde. Er würde etwas Positives sagen oder versuchen, die Stimmung durch einen Scherz aufzulockern. Oder sie würden über etwas Triviales und Belangloses reden, wie zum Beispiel das Wetter oder eine Fernsehsendung, die sie gesehen hatten. Ganz anders Mr Brecht mit seiner würdevollen, souveränen Art, dessen Anblick mir Herzklopfen verursachte.
»Soll ich andere Musik auflegen?«, fragte Ellen.
»Nein.« Mr Brecht schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht so weit.«
Ich wusste, welche Musik Ellen im Sinn hatte. Chopins Regentropfen-Prélude, das die Begleitmusik zu Mrs Brechts Tod sein sollte. Ellens Vater hatte ihr erklärt, dass der Geist eines Sterbenden auch nach dem Todeseintritt noch eine Zeit lang in einer Art halb bewusstem Zustand verharre. Wenn Mrs Brecht zu atmen und ihr Herz zu schlagen aufhöre, würde sie zwar nicht mehr in der Lage sein, die Augen zu öffnen, zu reden, zu fühlen oder zu schmecken, aber ihre Ohren würden noch hören können, ohne eines physischen Impulses zu bedürfen. Musik würde ihren Geist also noch erreichen.
Weitere Kostenlose Bücher