Das Dornenhaus
fürchtete? Betete sie jetzt, in diesem Moment, flehte den lieben Gott an, ihr noch eine Gnadenfrist bis Weihnachten zu gewähren, sie noch ein Mal erleben zu lassen, wie die Schwalben aus ihrem Winterquartier zurückkehrten und die Schlüsselblumen an den Straßenböschungen ihre Knospen öffneten? Dachte sie an all die Dinge, die sie nicht mehr sehen würde? Dachte sie überhaupt etwas?
Ich würde nicht zulassen, dass ich sterbe, wenn ich an ihrer Stelle wäre, dachte ich. Ich würde meine ganze Willenskraft aufbieten, um am Leben zu bleiben. Ich würde mich zu noch einem Atemzug zwingen und noch einem. Ich würde mich an mein Leben festklammern, nicht aufgeben, niemals. Mit einer Hand löste ich das Papier von einem Fruchtkaugummi in meiner Manteltasche und steckte ihn mir in den Mund. Er schmeckte trocken und sauer, ein Geschmack, den ich später immer mit dieser langen Autofahrt in Verbindung bringen würde.
Mr Brecht musste vergessen haben, dass ich mit im Wagen saß, oder er nahm mich absichtlich mit nach Thornfield House. Jedenfalls fuhr er nicht durch Trethene hindurch, sondern folgte der Straße, die direkt zu ihnen nach Hause führte. Mrs Todds kleiner schwarzer Wagen stand am Straßenrand vor dem Haus, zusammen mit Adam Tremletts Transporter und einem grünen Fahrzeug mit schrägem Heck.
Mr Brecht fuhr in die Auffahrt, bremste abrupt und zog die Handbremse an, noch ehe die Räder zum Stillstand kamen. Er murmelte etwas Unverständliches und stieg aus, schlug die Autotür zu und ging mit großen Schritten zum Hauseingang.
Nachdem ich ausgestiegen war, drückte ich Ellen den Blumenstrauß in die Hand. Sie sah blass und ängstlich aus.
»Ich geh dann besser«, sagte ich, und Ellen erwiderte: »Willst du nicht mit reinkommen und dich von Mama verabschieden?«
Nein, ich wollte Thornfield House nicht betreten, wollte Mrs Brecht nicht noch einmal sehen, das letzte Mal war schlimm genug gewesen. Ich wollte nach Hause und mich dort vor den Kamin kuscheln und Blumen der Nacht lesen – das Buch faszinierte mich so, dass ich es sogar in der Schultasche mit zur Schule genommen hatte – oder mit Jago plaudern. Aber Ellen sah mich so erwartungsvoll an, ihr Blick flehte, ich solle sie nicht allein in dieses Haus gehen lassen, sodass ich mir ein Lächeln abrang und sagte: »Ja, natürlich.«
Ein Paar schlammbehafteter Stiefel stand mitten auf der Eingangsstufe. Mr Brecht trat im Vorbeigehen wütend danach.
Nie werde ich die Atmosphäre vergessen, die an jenem Nachmittag in Thornfield House herrschte. Man hatte das Gefühl, als wartete das Haus selbst auf den Tod. Eine unheimliche Stille herrschte darin, sodass ich, als wir im Flur die Schuhe auszogen, das Ticken der Kaminuhr hören konnten. Mr Brecht war bereits in den ersten Stock hinaufgegangen, und plötzlich drangen von oben aufgeregte Geräusche herunter – gedämpfte Stimmen, das Zuschlagen einer Tür. Ellen warf einen besorgten Blick die Treppe hinauf, dann nahm sie mich an der Hand und führte mich in die Küche.
»Was ist denn los?«, fragte ich.
Ellen zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, Adam hat Mama noch mehr Blumen gebracht. Papa mag das nicht.«
Mrs Todd saß auf einem Stuhl beim Küchenfenster und strickte. Sie grüßte uns freundlich und setzte Teewasser auf. Ein Tablett mit Teegeschirr stand bereit.
»Wartet besser einen Moment hier«, sagte sie. Die Stimmen oben wurden lauter, zwei gedämpfte, wütende Männerstimmen. Mr Brecht stieß auf Deutsch einen Fluch aus, dann ertönte ein ohrenbetäubender Lärm, und es hörte sich an, als würde etwas die Treppe hinunterpoltern. Ellen und ich sahen zur Tür hinaus. Über die Treppe und den Flurboden lagen unzählige Blumen verstreut. Mr Brecht war dabei, sämtliche Gefäße mit Blumen aus dem Sterbezimmer seiner Frau die Treppe hinabzuwerfen. Einige landeten an der Wand und hinterließen feuchte Flecken. Blütenblätter blieben an den Rahmen der Gemälde hängen und segelten durch die warme Luft. Alles, die Treppenstufen, der Läufer auf der Treppe, der Flurboden, war mit Scherben von Vasen und Einmachgläsern übersät. Kurz darauf sprang Adam Tremlett in dicken Socken die Treppe herab. Sein Gesicht war wutverzerrt. So gut es ging, sammelte er die Blumen wieder ein, ehe er die Eingangshalle durchquerte und durch die Haustür verschwand. Mit einem lauten Knall fiel sie hinter ihm ins Schloss. Ellen und ich sahen uns an.
»Meinen Sie, es ist okay, wenn wir jetzt
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